Action und Liebe. Für den Cineasten Claude Lelouch gilt das auch mit 87.

Action und Liebe. Für den Cineasten Claude Lelouch gilt das auch mit 87.

Claude Lelouch stellt seinen neuen Film Finalement vor. Der Cineast, der 1966 mit Un homme et une femme schlagartig berühmt wurde, findet: »Kino ist Leben in besser.« Und rast wie eh und je durchs Leben.

Claude Lelouch (links) und Hauptdarsteller Kad Merad (Mitte) bei der Vorpremiere ihres neuen Films »Finalement« in Houlgate

Houlgate, 21. Oktober/15. November 2024.

Warum stellt der Mann, der für seinen 1966 gedrehten Film Un homme et une femme mit 30 Jahren zwei Oscars, einen Golden Globe und Cannes‘ Goldene Palme empfing, seinen 51. Film ausgerechnet in Houlgate vor? Das ist ein Badeort an der normannischen Küste, der keine 2000 Einwohner zählt, aber ein eigenes Kino betreibt. In diesem wird sogar das Festival des Europäischen Films zelebriert, auf das ich durch ein Plakat aufmerksam wurde. Wenige Tage zuvor erwarb ich ein Ticket, da waren für den Live-Auftritt gerade 40 Plätze weggegangen. Bei der Vorpremiere allerdings sind alle 256 Plätze ausverkauft, der sympathische Kinobetreiber Sylvain de Cressac muss Besucherinnen und Besucher zurückweisen.

Kurz nachdem sie stürmisch beklatscht worden sind, beginnen Regisseur Claude Lelouch und sein Hauptdarsteller Kad Merad Anekdoten zu erzählen. Er habe noch nie einen Film mit Lelouch gedreht, habe Kad Merad Lelouchs Frau kommentiert, der Schriftstellerin Valérie Perrin, als sie zufällig im selben Zug beisammen saßen. Er würde aber sehr gerne Teil der Lelouch-Familie werden, mit der die treue Crew samt Darstellenden gemeint ist. Worauf die Dame ihren Mann anrief und ihm davon berichtete.

Der hatte ein fertiges Drehbuch und suchte noch nach dem Protagonisten. Als die Frage aufkam, tippte er sich an die Stirn. Natürlich! Lelouch ist bekannt für seine Spontanität, auch bei seinen Drehs. Er will, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht spielen, sondern einfach sind. »Im Leben spielt man Dinge nicht. Da gibt es nur einen Take.« Oft provoziert er die Situation. Es gibt zwar ein Drehbuch, aber auf den Moment überrascht er seine Crew. »Das ist magisch, weil sie keine Zeit haben, ins Spielen zu kommen.«, grinst er. »Ich mache Filme, wie andere Jazz spielen. Es gibt das Thema und das, was man daraus macht. Ich ertrage es nicht mehr, wenn Schauspieler spielen. Es ist paradox, aber ich verlange von meinen Darstellern, dass sie wieder zu Menschen werden. Dann geschehen kleine Wunder.«

Merad und Lelouch kamen also zusammen und touren jetzt gemeinsam durch Frankreich mit ihrer »musikalischen Fabel«. Sie verstehen sich blendend und witzeln vor dem Publikum. Das hat einen irren Spaß. Merad spielt im Film einen Anwalt, der seine Arbeit aufgeben muss, weil er unter einer frontotemporalen Demenz leidet, weswegen er den Menschen um sich herum alles sagt, wie er es denkt. Ohne Filter.

Das Cinéma du Casino in Houlgate in der Normandie

Hätte ich mich nicht gerade für zwei Monate in Houlgate eingemietet und mich aufgrund der angekündigten Präsenz des Filmemachers ins Kino des alten Casinos begeben, würden Sie diesen Artikel nicht lesen. Claude Lelouch ist eine Legende. Er macht einfach sein Ding. Un homme et une femme, ein Mann und eine Frau, mit der in diesem Jahr verstorbenen Anouk Aimée und dem leider auch von uns gegangenen Jean-Louis Trintignant, kennen Sie wahrscheinlich mindestens durch seine Melodie und den eingängigen Text Dabadabada. Googeln Sie mal.

Weil Lelouch seine Filmmusik immer vor dem Dreh aufnehmen lässt und es damals noch keinen Text gab, sagte er: »Singt einfach dabadabada, dann sehen wir weiter«. Als er die Aufnahmen hörte, fand er es großartig und beschloss: »Das ist der Text! Das nehmen wir!« Tatsächlich schwingt in der sich durch den Film ziehenden Melodie, die Francis Lai komponierte, dem »Engel«, dem Lelouch bis zu seinem Tod 2018 verbunden blieb, so viel französisches Lebensgefühl mit, dass sie noch immer auf der ganzen Welt gehört wird. Sie ist Feeling Frankreich! Womöglich ist es ihr zum großen Teil zu verdanken, dass der – nach Lelouchs eigenen Worten – amateurhaft und mit spärlichem Budget gedrehte Film ihm und den Schauspielenden zum Durchbruch verhalf.

Nun, beim Recherchieren, stoße ich nach und nach auf ein Leben voller Drive. Je älter man wird, umso interessierter blickt man auf Menschen, die mit über 80 noch immer ohne Rollator durch die Welt gehen. Auch wenn man in Frankreich und anderswo ohnehin selten auf sie stößt. Ich kenne sie vor allem aus Deutschland.

Lelouch knallt gerne Lebensweisheiten raus, die sich in den vielen online zu sehenden Interviews wiederholen. Aber der Formel1-Fan ruht sich nicht auf ihnen aus, sondern jagt, jederzeit seiner Endlichkeit bewusst, weiter durchs Leben. Und obwohl der Filmtitel Finalement auf ein Ende deutet, arbeitet er bereits an seinem 52. Film, erfahren wir bei der Vorpremiere.

Warum aber ist das kleine Houlgate Teil seiner Tournee? Der Kinoleiter sagt, Lelouch sei öfter als Zuschauer hier. Der Filmemacher besitzt auch ein Anwesen ein paar Kilometer entfernt und pendelt wöchentlich zwischen der normannischen Küste und Paris. In Villers-sur-Mer, nur ein paar Kilometer weiter, hat er seine ersten Schritte gemacht, weswegen letztes Jahr auch die Promenade nach ihm benannt wurde.

Als Sohn einer Französin aus der Normandie und eines jüdischen Algeriers am 30. Oktober 1937 in Paris geboren, ist Claude Lelouch in der Gegend verwurzelt. Überhaupt liebt er Frankreich. »In diesem Land durfte ich in völliger Freiheit meine Emotionen und das, was meinem Leben Sinn verleiht, über meine Filme mit einem Publikum teilen. Und außerdem wollen in Frankreich alle Chef sein, aber keiner will gehorchen.« Daraufhin lacht das Publikum mit ihm.

In seiner Kindheit stand dieser Lebensweg für Claude Lelouch auf dem Spiel. Die Eltern wurden von der Gestapo gesucht und brachten dem Fünfjährigen schützende Strategien bei. Zu Hause spielten sie Razzia. Er lernte, nach heftigem Klopfen an der Wohnungstür sofort in die dunkelste Ecke zu flüchten und sich auch dann nicht zu zeigen, wenn die Eltern dabei die Wohnung verließen. In seinem Gürtel hatten sie Geld versteckt und einen Zettel mit Adressen verschiedener Personen, die er im Ernstfall aufsuchen sollte. Sie hatten ihm beigebracht, gelassen an der Hand einer fremden Person zu gehen. Selbst Antisemitismus hatten sie ihm einzutrichtern versucht. Und katholische Gebete.

Jahrelang war die Familie in Gefahr. Zwei Jahre blieb der Vater in Algier. Die Mutter irrte kreuz und quer mit ihrem Sohn durch Frankreich. »Sobald wir ein Versteck erreicht hatten, mussten wir schon wieder fliehen.«, berichtet Lelouch. War das der Vorläufer zur Rastlosigkeit, mit der der heutige Vater von sieben Kindern und acht Enkeln von fünf Frauen durchs Leben zischt?

Alles, was er gedreht habe, habe mit Menschen aus seinem Leben zu tun, sagt er. In dem Film Les uns et les autres, wörtlich: die Einen und die Anderen, wird eine Szene aus seinem Leben nachgespielt. Den offiziellen deutschen Filmtitel Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen… scheint sich der Gestapomann ausgedacht zu haben, der plötzlich im Klassenzimmer steht und zur Lehrerin sagt: »Wären Sie so liebenswürdig, ihre Schüler zu bitten, ihre Hosen herunterzulassen.« Der Nazi geht, die behandschuhten Hände, aus denen ein dünner Stock ragt, im Rücken verschränkt, durch den Mittelgang und guckt links und rechts durch die Reihen. Natürlich setzt er sich vor den Jungen ganz hinten, der den Kopf gesenkt hielt, blickt ihm in die Augen. »Wie heißt du?« »Duvivier, Jean-François.« Der Gestapomann blickt nach unten Richtung Hose, die man nicht sieht, hebt den Blick wieder in die Augen des Jungen. »Du bist sicher, dass du Jean-François Duvivier heißt?« »Ja, Herr Offizier.«

Die Lehrerin stellt sich hinter den Jungen, legt ihre Hände auf seine Schultern: »Bei ihm ist es ganz einfach. Er pinkelte schräg, als er klein war, also hat er sich operieren lassen.« Dann sagt sie zum Jungen: »Sag doch dem Herrn Offizier dein Gebet auf, um ihn zu beruhigen.« Notre père qui êtes aux cieux … Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, Dein Reich … Der Herr Offizier blickt die Lehrerin in diesen Sekunden eingehend an. Steht mit einem »Merci, Madame« schon beim dritten Satz auf, stürmt aus dem Raum, während das Gebet weiter rezitiert wird, und knallt die Tür zu. Die Lehrerin nickt dem Jungen zu und lächelt: »Na, hatte ich nicht recht, dir das beizubringen?«

»Diese Lehrerin war genial«, sagt Lelouch rund achtzig Jahre später. Als weitere Schutzmaßnahme versteckte Lelouchs Mutter ihren Sohn im Kino. Schon mit fünf oder sechs Jahren schaute er sich dreimal täglich den selben Film an, sie liefen damals in Dauerschleife. Er versuchte, hinter der Leinwand die Menschen zu finden, die vorne spielten, und fand sie nicht. »Das Kino hat mir das Leben gerettet. Man verhaftete Juden nicht im Kino.«

Schon sein ganzes Leben ist Lelouch »on the run«. In einem der zahlreichen Interviews sagt er: »Heute noch bin ich traumatisiert. Ich habe ein Problem mit den Deutschen. Wenn ich Deutsch sprechen höre, fühle ich mich nicht in Sicherheit. Ich war nie beim Filmfestival in Berlin. Ich habe Angst, nach Deutschland zu gehen.« Das geht mir nah. Als Kind eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter trage ich ein Leben lang einen Zwiespalt in mir, der sich nicht auflöst.

Woher diese Lebensenergie kommt, und dass Lelouch seine Filme gerne positiv enden lässt? »Alles, was kein Krieg ist, ist Glück. Seit 1944/45 habe ich das Gefühl, dass alles, was ich lebe, ein Extra ist, weil wir eigentlich dran gewesen wären.« Letztes Jahr hat er zum vierten Mal geheiratet.

Sein meistgesehener Film heißt C’était un rendez-vous und dauert knapp neun Minuten. In einer einzigen Sequenz rast Claude Lelouch persönlich mit am Auto befestigter Kamera in den frühen Morgenstunden des 15. August 1976 duch Paris. Ohne Schnitt, ohne Special Effects und ohne Genehmigung. Dafür mit 18 überfahrenen Ampeln, etlichen Beinahe-Unfällen und den Behörden am Hals. »Wir hatten vom letzten Dreh diese Filmrolle übrig, die wollte ich nicht vergeuden.«

Ja, Lelouch liebt auch das Auto. »Darin kommen mir die meisten Filmideen.« Und die Geschwindigkeit. Ich verrate Ihnen vom Ende des Kurzfilms, den Sie online sehen können, nur, dass es mit diesen Feststellungen zu tun hat: »L’action et l’amour, die Tat und die Liebe, das sind die beiden Dinge, an die ich im Leben ganz fest glaube. Alles, was man sich im Leben abverlangt, geschieht darum: Lieben und geliebt werden. Der Rest sind Trostpreise.«

Und was sagt Kad Merad über die Arbeit mit Lelouch fast 50 Jahre danach? »Es ist einzigartig, die größte Freude. Man ist nicht im Filmset, sondern im echten Leben. Es gibt keine Kamera mehr. Claude hat mich einfach ins Festival von Avignon gepflanzt und mich gebeten, Leuten auf der Straße Blumen zu schenken. Niemand wusste, dass das ein Film war.«

Was bleibt von diesem Film, der eine Art Bilanz ist, will ein Interviewer von Claude Lelouch wissen. »La vie est une course d’emmerdements au pays der merveilles. Das Leben ist ein Wettrennen von Nervereien im Wunderland. Die Wunder sind stärker als die Ärgernisse. Mit diesen Wundern muss man spielen. Wenn sie ein bißchen überwiegen, beginnt Glück. Wenn sie weniger sind, beginnt die Nerverei.«

Am Ende des Films blickt mich von rechts die mir unbekannte Sitznachbarin an, die alleine gekommen ist: Ach, war das nicht wunderbar? Links höre ich eine Freundin zur anderen ohne große Begeisterung sagen: Na ja, war halt wieder ein typischer Lelouch!

Als ich das Kino am Atlantik verlasse, ist das Meer vor mir erheblich gestiegen. Auch das gibt ein Gefühl für Vergänglichkeit. Finalement, denke ich, während ich am Saum zwischen Wasser und Sand laufe, verwirklicht dieser Mann sein Leben lang schon, was ihm am Herzen liegt. Mit eigenen Mitteln, völlig frei. Egal, was die einen und die anderen sagen. Und ist damit, finalement, noch nicht fertig.

Im 5. Arrondissement wird die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele Paris 2024 in den Arènes de Lutèce übertragen

Bombenstimmung

Die Olympiade in Paris ist beendet. Wie weit reicht das Pariser Glück?

Im 5. Arrondissement wird die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele Paris 2024 in den Arènes de Lutèce übertragen
Im 5. Arrondissement wird die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele Paris 2024 in den Arènes de Lutèce übertragen

12. August 2024. Gestern hat der neue französische Superheld Léon Marchand, 22 Jahre jung, vier Goldmedaillen und eine aus Bronze um den Hals, die Flamme der Olympischen Spiele 2024 in dem Bergwerkerlämpchen ausgeblasen. Ich habe es in der Übertragung der Abschlusszeremonie auf dem Bildschirm in den Arènes de Lutèce in der rue Monge gesehen. Die aus den Zeiten der Römerinnen und Römer (ja, Frauen gab es schon damals) stammende Arena von Lutetia, wie Paris in seinen Anfängen hieß, Leserinnen und Leser von Asterix wissen das. Die Arena ist hinter einer Tür versteckt und derzeit Zone für Public Viewing im 5. Arrondissement. Ich wohnte früher zwei Ecken weiter.

Sie ist also vorbei, die Olympiade. Die Sicht hier war mittelmäßig, die Stimmung von einer Heiterkeit, dass es mir auf meiner Decke im Sand sitzend egal war, die feierlichen Bilder als Hintergrund eines Scherenschnitts einer auf einer Bank weiter vorne sitzenden Gruppe von Zuschauenden zu erleben. Ab und zu kam die Botschaft vom Kommentierenden der Zeremonie: Wer könne, stehe jetzt bitte zur Nationalhymne auf. Alle, die konnten, standen auf, auch, als die amerikanische Hymne angekündigt wurde.

Menschen aller Nationalitäten, Haut- und anderer Farben wurden beklatscht. Ich hörte Ohs und Ahs. Ich hörte Lachen. We are the world. Ich dachte in diesen Stunden wirklich, das Wort Rassismus könne sich zum Arbeitsamt schleppen und würde dort kopfschüttelnd abgewiesen. Wenn Zuschauende hinzukamen und ihre Rucksackrücken vorschoben, wurden sie von den hinteren freundlich darum gebeten, ob sie vielleicht etwas weiter nach links oder rechts rücken könnten. Sie taten es.

Wir hörten Charles Aznavour, und sanft erhob sich manche Stimme und sang mit. Als Les Champs Elysées von Joe Dassin erklang, ein zur Hymne gewordenes Schlenderchanson von 1969, sang und schwang die Arena mit allen Generationen. Ich schickte meiner Schwester, die die Zeremonie in einer Bar in der Normandie verfolgte, eine Nachricht mit dem Feuchte-Augen-Emoji. Flugs empfing ich ein Umarmungsemoticon. Ich habe noch heute die Kassette meiner Mutter, die wir im Auto einlegten, als wir immer öfter zwischen Paris und Düsseldorf hin und her fuhren, bevor wir uns dort niederließen. Wenn der Autorecorder sie nach dem letzten Lied ausspuckte, drückten wir sie ihm wieder rein und sangen mit.

Nach den akrobatischen Darbietungen im Spiel mit den olympischen Ringen und dem spektakulären, um 90 Grad gekippten und mitsamt dem Pianisten vertikal nach oben gezogenen Flügel, an dem der hier meines Unwissens nach nicht berühmte Schweizer Alain Roche eine Hymne an Apollo spielte, ein antikes Stück, entziffert in den Ruinen von Delphi und 1894 zum ersten Mal in Paris aufgeführt, fiel das Dargebotene in eine eher banale Abfolge von Konzertauftritten ab, wie man sie sonst auch kennt. Vielleicht sehe nur ich das so, in der Arena von Lutetia wurde gejubelt. Wie damals in der Römerzeit.

Tom Cruise brachte mit einem irren Sprung am Seil in den Stade de France die Wende und nahm uns nach Los Angeles mit. Ich erfuhr erst hinterher, dass der Klotz am Bein keine Bremsvorrichtung war, sondern eine Fahne der Vereinigten Staaten, an die Cruise nicht gelangte. Ist das ein Omen für die Wahlen im November? Red Hot Chili Peppers und Snoop Dogg dort fand ich anregender, als was ich in Paris sah.

Ich drehte mich nach den Sicherheitskräften um. Ihre Gesichter leuchteten und manch einer hatte Mühe, Tanzschrittchen zu einem Wippen zu zähmen. Als die Zeremonie offiziell beendet war und damit das Public Viewing, fragte ich einen Polizisten: »Na, ist das alles nicht viel besser gelaufen als befürchtet?« »Ja«, erwiderte er freundlich, »aber jetzt ist der Moment, wo wir aufpassen müssen.« »Worauf genau?«, wollte ich erfahren. »Dass sich nicht irgendwelche Grüppchen bilden und plötzlich Randale machen.« Als ich unter den Letzten die Arena verließ, waren alle friedlich durch den schmalen Ausgang gelaufen und hatten sich bei den Sicherheitskräften bedankt und diese sich bei ihnen. »Et bonne fin de soirée !«

Heute, am Tag danach, fühlt sich Paris an, als würde Gott persönlich sich die Haare föhnen. Den ganzen Tag. Er soll ja überall sein. Also auch da, wo ich bin. Im elften Arrondissement. Es sind 38 Grad und in der Sonne noch mehr. Ich gehe wieder ins kühler gebliebene Haus und gucke mir am Abend noch französische Nachrichtensendungen mit Rückblicken an. Die Interviewten, ob an den Wettbewerben direkt beteiligt oder nur zuschauend, sind überschüttet von Endorphinen. Auch die Nachrichtensprecherin strahlt. Das tut sie oft, wie um die öfter schlechten Nachrichten zu relativieren.

Im Studio hat sie die französischen, in Tischtennis medaillenbehängten jungen Brüder Lebrun, die Fahnenträgerin der französischen Delegation der Paralympics Nantenin Keïta, die am 28. August eröffnet werden, und den Vorsitzenden des Organisationskomitees der Olympischen Spiele Tony Estanguet. Französische Nachrichten laufen oft geselliger ab als deutsche. Estanguet hat, wie gestern Abend bei seiner Abschlussrede, noch immer la banane, nämlich ein glückliches Lächeln. Er bestätigt, dass die anfänglichen Sorgen durch den allseits erlebbaren Olympiarausch weggefegt wurden. Alle hoffen auf eine Wiederholung des Glücks für die Paralympics, die am 28. August eröffnet werden. Es sind noch Plätze frei.

Dann suche ich im heute journal nach der Übertragung der Fröhlichkeit hier und wie sie in Deutschland kommentiert wird. Nach ein paar Bildern erscheint die Nachricht auf blaugrauem Hintergrund: »Die momentan laufenden Fernsehbilder dürfen aus rechtlichen Gründen nicht im Internet gezeigt werden. Es geht gleich weiter.« Gleich heißt mehrere Minuten. Ich klicke in die Tagesthemen und betrachte das etwas andere Blau, auf dem steht »Kurze Unterbrechung – Diese Bilder dürfen aus rechtlichen Gründen nicht gezeigt werden.« Es heißt, Blau beruhigt die Gemüter. Bei mir klappt es gerade nicht. Warum ist das Teilen der Bilder, die gut tun, nicht möglich? Zum Glück gibt es Videokanäle.

Nach der Nichtübertragung der fröhlichen Szenen wird in den Tagesthemen von der Zerstörung einer Schule mit etlichen Opfern in Gaza berichtet. Keine Pause von den Katastrophen. Und ja, sie geschehen, und es ist wichtig, dass über sie berichtet wird. Nur frage ich mich: Wie sollen wir etwas Positives in den Kopf bekommen, wenn es uns verwehrt wird? Krieg ja, olympisches Glück über alle Grenzen nein? Dabei ist ganz Paris noch trunken vor Freude.

Im Beitrag danach geht es um Haifa und die Angst vor Raketen. Wir erfahren, dass Bunker vom Militär sowohl von der Kommandozentrale als auch von zu Hause aus ferngesteuert geöffnet werden können.

Bombenstimmung ist zweierlei.

Paris 2024, die Olympiade der Träume

Paris 2024, die Olympiade der Träume

Wie fühlt sich nochmal Leichtigkeit an? Die Olympischen Spiele in Paris weisen auch mit ihrem neuen Symbol für die vereinende Feuerschale weit über die Welt des Sports hinaus. Sie laden ein, gemeinsam an der Welt zu träumen und Visionen zu entwickeln.

Papas Schultern tragen die kleine Elya noch näher an die Montgolfière. Und wer weiß, an welche Träume …

7. August 2024. Auch heute, wie an jedem Abend während der Olympischen Spiele in Paris, sind so viele Menschen zusammengekommen, um den Moment zu erleben, an dem die neue Form der olympischen Feuerschale sich erhebt, die Montgolfière. Ist Feeling Paris durch alle Kulturen spürbar: Das einzigartige Gefühl dieser Stadt, aus dem heraus dieser Blog entstanden ist.

Montgolfière, was ist das? Das fragte mich neulich ein deutscher Freund, während wir die Übertragung der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2024 verfolgten. Ich erzählte ihm, dass es das erste war, was mir in der französischen Grundschule auf einem Arbeitsblatt ausgehändigt wurde. Ein Heißluftballon, erfunden von den Brüdern Joseph-Michel und Jacques-Etienne Montgolfier, der im Jahr 1783 den ersten menschlichen Flug ermöglichte. Sechs Jahre vor der Französischen Revolution. Meine Klassenlehrerin hatte ihn selbst gezeichnet. Wir sollten ihn ausmalen und in unser Heft hineinkleben. Und ich liebte ab da bis heute Montgolfières.

Ich liebe auch Spezialworte. Montgolfière ist eines. In Frankreich weiß man, was es bezeichnet. In anderen Kulturen eher dann, wenn man sich damit beschäftigt. Aus reiner Lust, es aufleben zu lassen, platzierte ich es mal in einer meiner Kurzgeschichten. Es fand sich auf den Boxershorts einer Figur wieder. Diese Boxershorts stellte ich mir wiederum vor wie die schöne Tapete des italienischen Designers Fornasetti: Mit imaginären Flugobjekten im Geiste des Schriftstellers Jules Verne, die eine kleine Wohnung von mir in Düsseldorf zieren, die ich vermiete. Diese Tapete hat eine Magie. Vielleicht mieten sich deswegen oft Künstlerinnen und Künstler dort ein.

Anders als das erste Exemplar, das von den Brüdern Montgolfier entworfen wurde, taumelt dieses Flugobjekt des Designers Mathieu Lehanneur, der auch die olympische Fackel entworfen hat, unverziert und lebendig vor uns. Vom Wind sanft hin und her getrieben, wirkt es leicht trunken, wie die aufgeregten Menschen hier, und wartet auf das große Abheben. Ein Fesselballon.

Wie soll das eigentlich gehen? Ballon: Leichtigkeit, Fliegen, Freiheit. Fessel: Bleib, wo du bist. Träumen statt erleben. Ein »wir könnten« statt »wir tun«. Es ist ein Bild für einen Traum. Und, banal und wahr, ein Traum von einem Bild. Manchmal reicht ein solches Bild, um auf andere Gedanken zu kommen. Einen Moment in eine andere Wirklichkeit zu fliehen.

Vor mir blickt ein Mädchen auf den Schultern ihres Vaters gebannt auf das Flugobjekt. Wir alle warten in Vorfreude. Alleine das: Dass ich das Wort »wir« schreiben kann und nicht den engsten Freundeskreis meine. Vergessen die Sorgen, die Warnungen, die Aufregung der letzten beiden Monate, als ganz Frankreich vor einer politischen Wahl stand, die es nicht vorbereitet war zu treffen. Und jetzt, in Erwartung, im sanft schwingenden Ballon, der das olympische Feuer versinnbildlicht, blicken Tausende von Menschen auf dieses leere Gefäß. Bloß, um es voll Luft aufsteigen zu sehen. Doch diese Luft tut gut. Sie kann mit allen Träumen dieser Welt gefüllt werden. Und mit ihnen abheben. Nicht sehr hoch, aber immerhin nach oben.

Frankreich bietet mit diesem Symbol der Schwerelosigkeit eine luftige Gegenvision zu den Dramen, von denen wir täglich hören. Botox auf die Sorgenfalten. Ein Bild, in dem wir uns gemeinsam wiederfinden können, wie wir auch und vor allem sind, wonach wir uns sehnen. Von den Konflikten in der Welt, die nicht unbedingt unsere ureigenen sind, in einer Vision von aufsteigender Leichtigkeit erlöst zu werden. Selbst, wenn das Feuer eine Illusion ist.

Tausende von Menschen warten darauf, dass die Montgolfière aufsteigt
Tausende von Menschen warten jeden Abend während der Olympiade darauf, dass die Montgolfière aufsteigt

Was zu brennen scheint, ist ein ausgeklügeltes Zusammenspiel von Wasserdampf und Elektrizität. Vierzig LED-Projektoren an einem Ring von rund sieben Metern Durchmesser strahlen eine Wolke an, die von 200 Wasserdüsen unter Hochdruck erzeugt wird. Noch in 60 Metern Höhe funktioniert diese von den französischen Elektrizitätswerken EDF erdachte historische Premiere. Mit einer fliegenden Feuerschale wollten wir den Geist der Kühnheit, der Kreativität, der Innovation – und manchmal auch der Verrücktheit! – Frankreichs würdigen, das im Herzen der DNA von Paris 2024 steht. So erklärt es Tony Estanguet, der Vorsitzende des Organisationskomitees der Olympischen Spiele in Paris 2024.

Doch wollen wir das wissen, den Traum dekonstruieren? Nein. Vor allem jetzt nicht. Wir müssen gerade auch nicht wissen, dass die olympische Flamme in einer nur etwa 20 cm hohen, weiterentwickelten und den heutigen Sicherheitsanforderungen entsprechenden Version einer Bergwerklampe in der Nähe des neuen Symbols flackert. Regelmäßig gespeist von 50 Millilitern flüssigem Paraffin. Alle zwei Wochen wird der Docht ausgetauscht. Und dass diese kleine Lampe Ende des 19. Jahrhunderts während der industriellen Revolution im Norden Frankreichs ersonnen wurde, um den Minenarbeitern zu leuchten und sie vor Unfällen zu schützen. Ah ja. Doch nett, das zu erfahren.

Aber jetzt steigt gerade der Ballon mit Fesseln endlich gen Himmel. Um mich herum jubelt und klatscht, lacht und pfeift es freudig. Und wird bald ruhiger. Die Menschen sind damit beschäftigt, hinzuschauen. Oder dieses Ereignis mit gezückten Handys für den Rest der Welt festzuhalten. Manche bieten ihren Lieben einen Livestream.

Das ist … das ist … irgendwie meditativ, sagt eine junge Frau neben mir. Je suis magnétisée, kommentiert ihre Freundin mit offenem Mund, also ganz in den Bann gezogen.

Es ist nicht nur der Ballon, der sich erhebt. Es ist ein buntes Volk, das sich gerade gebildet hat. Das Volk ohne Grenzen, das von überall her kommt und träumen will. Das in diesem Augenblick mitten in Paris erlebt, wie man einfach so miteinander sein kann. Gerade ist. Freudig verbunden. Die Bilder, die in die Welt hinausgeschickt werden, können es nicht vermitteln. Man spürt es, wenn man dabei ist.

Ich blicke auf die schwebende Montgolfière, auf die leuchtenden Gesichter. Von diesem Feuer ohne Brand strahlt etwas aus, das ganz woanders hinweist als in die verwirrende Welt, in der wir glauben zu stehen. Man müsste nur den Blick verschieben. Zu etwas Sanfterem verführt werden. Ist es nicht das, was unter Tausenden von Augen gerade geschieht?

Noch lange, nachdem die Menge weg ist, wird weitergeträumt

Wer ist denn dieser Schlumpf?

Wer ist denn dieser Schlumpf?

Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris demontiert der Künstler Philippe Katerine als Dionysos die Absurdität von Krieg mit der Absurdität seines Humors voller Liebe

Philippe Katerine besingt den Frieden als sanfter Dionysos: Wer nackt ist, kann keine Waffe verbergen. Screenshot während der Eröffnungübertragung der Olympischen Spiele am 27. Juli 2024

26. Juli 2024. Endlich ist er da! Der große Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele, für den Paris das Unmögliche geschafft hat. Vielleicht. Am Morgen habe ich mir noch sehr detaillierte Infos in den Podcasts der Tageszeitung Le Monde angehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Zeremonie im Grunde nicht durchführbar ist.

Islamistische Terrorangriffe, Cyber- und Drohnenangriffe, Messerattacken in der Menge oder ein Einzelfall, der eine unvorhersehbare Kette von Panikreaktionen auslöst. Sie sind nur eine Auswahl der vielen Katastrophenszenarien, auf die sich Paris vorbereitet hat, so gut es geht. Den logistischen Wahnsinn, den diese Eröffnung mitten in der angeblich meistbesuchten Stadt der Welt bedeutet, nicht eingerechnet. Es ist ein Experiment, und nun, wo gerade TGV-Strecken an fünf Stellen sabotiert wurden, wollen wir gucken, wie es gelingt.

Zwischen zwei Aufenthalten in Paris sitze ich mit zwei Freunden und meiner Tochter vor einem großen Bildschirm im Wohnzimmer in Düsseldorf, gespannt auf die Eröffnungszeremonie. Sie beginnt mit Humor: Der in Frankreich berühmte Comedian Jamel Debbouze ruft, die Fackel in der Hand, in einem menschenleeren Stadion: »Huhu, Olympische Spiiieleee«. Er verzweifelt unter dem Echo der letzten Silbe. Ankündigungen in Nachrichten aus aller Welt werden eingeblendet: Alle außer Jamel wissen, dass die Zeremonie nicht wie sonst in einem Stadion, sondern im Herzen von Paris stattfindet.

Zum Glück eilt Zizou alias Fußballlegende Zinedine Zidane herbei und nimmt ihm die Fackel ab. Er weiß, wo es langgeht, sprintet heroisch unter wilden Jazztönen über Autos aus den Sechziger Jahren und andere Hindernisse, kauft am Schalter in einer Metrostation ein einzelnes Ticket, noch aus Pappe, steigt mit der Fackel in die Bahn. (Was, noch immer Metrotickets aus Pappe? Dazu der Beitrag Adieu, kleines Metroticket.)

Drei Kinder hechten ihm hinterher, die Metro fährt schon ab. Noch in der Station hält sie an. Die gerade enttäuschte Bande rennt hoffnungsvoll dorthin. Zizou öffnet ein Fenster, übergibt die Fackel an eins der erstaunten Kinder und streckt zur Ermutigung seinen Daumen hoch. Die Kinder schleichen mit dem kostbaren Gut in den Pariser Katakomben an den aufgestapelten Totenschädeln vorbei und werden von einer mysteriösen Figur mit weißer Kapuze und maskiertem Gesicht in einem unterirdischen Kanal in ihr Boot eingeladen.

Schon mit dieser selbstironischen Einleitung zeigt Frankreich, dass es für ein so traditionelles Ereignis ungewöhnliche Wege geht. Statt einer endlosen Abfolge bedeutender Persönlichkeiten und Panoramaaufnahmen von Menschenmengen in einem Stadion stehen für einen Moment drei Kinder im Fokus und vermitteln, worum es sich bei dieser Eröffnung handelt: Einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Sonst wäre es ja keins.

Dann der Kameraschwenk auf überirdisch, auf offizielle Tribüne, während dem der Schirmherr und Präsident Emmanuel Macron sowie der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach angekündigt und eingezoomt werden. Macron wirkt nicht entspannt, schüttelt Bach pflichtgemäß die Hand und umarmt ihn.

Wie in einem Karnevalszug sehen wir die Boote mit den Teilnehmern auf der Seine defilieren, staunen über manche Kleinstländer, die teilnehmen und Reiselust wecken. Wir erleben Lady Gaga klischeehaft als Revuestar mit viel plüschigem Rosa, dann Tänzerinnen und Tänzer vor unglaublichen Kulissen. Und Dragqueens.

Es sind so vielerlei Eindrücke, und die ganze Zeit ist mir bewusst, dass mit den zahlreichen Einzelspektakeln im großen Spektakel Bilder und Botschaften in die Welt gesandt werden, die, gelinde gesagt, für manches Stirnrunzeln sorgen werden. Paris, und damit Frankreich, präsentiert sich divers, verrückt, modern, klischeehaft, historisch, und dabei vor allem: frei. Und das nicht subversiv aus dem Untergrund, sondern als Nation. Das ist in der Welt, die wir heute erleben, eine Sensation. Dass es seit Stunden schüttet, ändert nichts an der Botschaft.

Zu aller Verrücktheit kommt noch er, umringt nicht nur, aber auch, von Dragqueens. Eine riesige Speiseglocke wird gelüftet, und wer wird uns da wie im feinen Restaurant serviert? Ich brauche zwei oder drei Sekunden, um die seitlich liegende Figur mit dem veralteten Mikrofon in der Hand zu erkennen. Sie glänzt von oben bis unten in Hellblau und ist nackt bis auf eine Krone aus Früchten und Blättern, einer ebensolchen Girlande um den Körper und – ja, einem diskreten, aber sichtbaren Slip. Haare und Bart sind gelb gefärbt. »Mensch, das ist ja Philippe Katerine!«, rufe ich aus, und meine Tochter lacht mit mir mit. Sie ist außer mir die einzige unter uns, die ihn kennt.

»Wer ist denn dieser Schlumpf da?«, höre ich aus der Runde. Unmöglich, das Universum von Philippe Katerine in dem Moment zu erklären. Ich gucke gebannt auf den großartigen Quatsch. Was dieser Künstler macht, wirkt meistens verrückt und ist es auch. Und enthält eine Menge Liebe und Poesie, eingebettet in sehr französischem Humor, auch wenn diesen bei weitem nicht alle in Frankreich teilen, jetzt deutlich weniger als zuvor.

Gäbe es Kriege, wenn wir einfach nackt geblieben wären? Nein. Wo einen Revolver verstecken, wenn man ganz nackt ist, wo? Ich weiß, an welchen Ort Sie denken, aber das ist keine gute Idee, singt Philippe Katerine. Als er die Zeile Vivre comme on est né, leben wie man geboren ist gesungen hat und mehrmals tout simplement tout nu, einfach ganz nackt wiederholt hat, lässt er zur weiteren Entblößung das Mikrofon wie zufällig aus den Händen fallen. Sein Auftritt ist so absurd wie seine Botschaft einfach und wahr.

Viele Jahre hat der Songschreiber, Schauspieler, Regisseur, Zeichner, Bildhauer und Schriftsteller, der seit 2010 mit Julie Depardieu sein Leben teilt, der Tochter von Gérard Depardieu, auf Erfolg gewartet, bevor er mit seinem Song Louxor j’adore Jahre zuvor den Durchbruch schaffte. In diesem Lied singt er J’adore regarder danser les gens, ich liebe es, die Menschen tanzen zu sehen.

Der Videoclip dazu beginnt irgendwo in tiefster französischer Provinz. Man sieht Jäger mit ihren Gewehren auf der Schulter, auf einer Straße fährt ein Laster heran, ein Jäger dreht sich um und erblickt das Unheil: Philippe Katerine tanzt auf der offenen Ladefläche wie in einer privat organisierten Gay pride im Slip mit hautengem rosa Rollkragenshirt und Mantel mit Fellbesatz inmitten von Frauen mit fahlblonden Perücken in ebensolchem Rosa sein J’adore, während der Laster durch ein französisches Dorf fährt, von denen es etliche gibt. Die Dorfbewohnerinnen und -bewohner allen Alters tanzen begeistert mit, dann singt er: Und von Zeit zu Zeit stelle ich den Ton ab – die Musik verstummt – und stelle ihn wieder an. Da geht die sehr tanzbare Musik wieder los, die Menge jubelt.

Genau in diesem Innehalten, in diesem Austritt aus der Wirklichkeit, wenigstens für einen Augenblick, liegt Philippe Katerines Kunst. Oder, wie er a cappella in einem 33-Sekunden-Liedchen wiederholt, in dem er immer näher ans Mikrofon kommt: Je m’éloigne d’autant que je m’approche. Ich entferne mich so weit, wie ich mich nähere. Prophetische Ausmaße nimmt diese Feststellung in seinem auch im Internet in Liveauftritten zu sehenden Stück Marine Le Pen von 2005 an. Darin erzählt der Protagonist jemandem folgende Story, hier etwas verkürzt adaptiert:

Ich gehe die Straße entlang, da ist dann dieses Mädchen mit langen, blonden Haaren, ich folge ihr, weil ich irgendwie scharf bin. Plötzlich dreht sich das Mädchen um, und was seh ich? Verdammt, Marine Le Pen, oh nein, das glaubst du nicht, das glaubst du einfach nicht, Marine le Pen, glaubst du das? (Das ist der Refrain!) Dann sag ich mir, ist gut, ich geh nach Hause. Ich überhole sie und laufe Avenue du Président Kennedy entlang bis zur Place de Varsovie (Warschauer Platz). (…) Ich dreh mich um, sie ist hinter mir, ich kriege Angst, sie verfolgt mich, ich gehe schneller, sie ist noch immer da, ich rufe ein Taxi, es ist besetzt, ich renne, es ist ein Alptraum, ich komme am Place de l’Etoile an, alles voller Autos, sie ist zwei Meter entfernt, ich spür’s, ich wag’s nicht, mich umzudrehen, da ruf ich ein Taxi, ein Wunder, es hält an, im letzten Moment, der totale Horror!

Ständig stellt er mit einem erfrischenden Sinn für Absurdität Konventionen in Frage, ja die Welt, in der wir leben, verschiebt die Grenzen dessen, was für uns selbst, aus einem komfortablen Stumpfsinn heraus, gerade noch akzeptabel erscheint.

Gerne verbindet er die Brutalität der Welt mit Zärtlichkeit. In seinem Lied Des bisous, Küsse fragt er in hysterischem Ton: Wofür sind wir hier? Für wen sind wir hier? Wofür machen wir uns in Läden verrückt? Was wollen wir im Grunde? Was suchen wir letztendlich, wenn wir uns verrückt machen? Worauf warten wir? Mit engelhafter Stimme singt er die einfache Antwort ganze fünfzehn Male: Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse.

Von den mehr als drei Worten, die es im Französischen für Kuss gibt – baiser, bise, bisou – singt Philippe Katerine das kindliche und vertraute, das man sich auch unter Freundinnen und Freunden beim Verabschieden sagt: bisou. Denn das bleibt dieser Künstler zum Glück: Ein weises Kind.

Diesen Beitrag können Sie in leicht veränderter Form auch auf Niederländisch im Magazin für Kunst und Kultur »Zout Magazine« lesen: https://www.zoutmagazine.eu/wie-is-deze-smurf/

Mitten im Chaos II: Chillen im Vakuum?

Mitten im Chaos II: Chillen im Vakuum?

Chillen im Vakuum auf dem Dach des alternativen Kulturorts Point Ephémère am Canal Saint Martin

Nur Stunden nach dem Ausgang der Europawahl am 9. Juni 2024 zugunsten der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National hat der französische Präsident Emmanuel Macron entschieden, die Assemblée Nationale aufzulösen, die Nationalversammlung. Sie bildet mit dem Sénat das französische Parlament. Wie ist die Stimmung vor den Neuwahlen bei den Menschen in Paris?

23. Juni 24. Heute ist endlich der Sommer ausgebrochen, es sind 27 Grad. In den letzten Tagen habe ich pausenlos Familie, Freundinnen und Freunde gesehen, zwischen ihren Lachern tiefes Stirnrunzeln, sobald es um Politik ging. Der Schock von Macrons Pokerspiel sitzt noch tief. Eben saßen wir noch in einem Café an der Seine auf der Ile de la Cité voller Touristinnen und Touristen. Bis zur nächsten Verabredung bleiben ein paar Stunden Zeit. Wasser wäre jetzt gut. Zum Trinken und zum Draufschauen.

Ja, Wasser und Vakuum. Der Canal Saint Martin ist nicht weit. Nach der Brücke bei der Haltestelle Jaurès entdecke ich die Übernachtungsvariationen im öffentlichen Raum. Hier eine Matratze mit Decke unter offenem Himmel, ein bißchen weiter ein paar Zelte. Ist man weniger obdachlos, wenn man unter einer Kunststoffplane lebt und diese an urbanem Mobiliar festgeknotet ist?

Darunter, am Ufer, ein kleiner Fuhrpark der Propreté de Paris, die städtische Müllabfuhr, mit Variationen an Fahrzeugen für verschiedene Methoden der Abfallbeseitigung.

Mein Ziel ist der vorhin von der Brücke erspähte Rooftop der Usines Ephémères mit Sonnenschirmen am Quai de Valmy auf der anderen Seite des Kanals. Rooftops sind hier Bars auf einem Dach, und die sind jetzt angesagt. Also rüber über die Schleusenbrücke auf die schmale Uferseite. Ein Mann sitzt direkt am Wasser vor Zelten, die sich um Pappeln gruppieren. Ich sehe von oben, wie er ins Wasser schaut, wir bilden eine Blickkaskade. Jäh steht er auf, holt aus der Außentasche eines Zeltes ein rotes Notizbuch heraus und kritzelt wie besessen hinein. Genau das will ich doch auch, also, aufi aufi! Bilder einsaugen und loswerden. Alles, was ich sehe, wird in dieser besonderen Situation zur Metapher. Jetzt taucht ein Hund mit Kopfhörern an der Leine einer Frau auf. Für einen Moment die Welt nicht hören. Le veinard! Der Glückspilz!

Auch ein Pariser Hund kann Noise reduction im Juni 2024 gut vertragen

Dann bleibe ich erstaunt über die roofless Wohninstallation stehen, die eine stylische städtische Toiletteneinrichtung in ihr Areal eingeschlossen hat. Vorne an der Absperrung hängt die Wäsche, daneben ein Gebetsteppich und eine Flasche Desinfektionsmittel. Perfekt organisiert.

Im Gebäude unter dem Rooftop finde ich eine kleine Tür, auf dem Schild daneben steht Point éphémère. Soviel wie »vorübergehender Halt« oder »Zwischenstation«. Genau da befindet sich Frankreich, und mit ihm Europa, das dorthin schaut. Seit zwanzig Jahren findet im Point éphémère alternative Kultur in allen Formen statt, doch ich bin hier zum ersten Mal. Zunächst gehe ich um das Gebäude herum, an die Terrasse der Bar im Erdgeschoss mit Grolsch-Plastikbechern und vielen jungen Leuten, dann locken mich Stimmen hinein. Auf einer Minibühne wird jemand interviewt, männlich bis divers, nennen wir diese Erscheinung Angel, denn auf ihrem ärmel- und bauchfreien Top steht: angel energy. Angel schüttelt seine langen, mit zwei Klämmerchen zurückgehaltenen Haare und erzählt gestenreich davon, was seine Dragmother in ihm bewirkt hat.

»Kannst du uns kurz erklären, was eine Dragmother ist?« fragt die Moderatorin und lächelt zur zehnköpfigen Zuschauergruppe auf den Bierbänken. »Im Wesentlichen ist sie eine Dragqueen, die einen unter die Fittiche nimmt und in ihre Welt einführt.« In diese Welt scheinen seine perfekt manikürten langen Finger mit zartrosa Nagellack zu weisen. Irgendwo, wo Engel sind. Also zu einem ganz anderen Ort als dem des Rassemblement National von Marine Le Pen, zu Planet Bubble ohne Politik.

Auf einem kleinen Podium im Point Ephémère geht es um Dragqueens und Dragmothers

Ich mache mich davon, greife im Vorbeigehen nach einem Flyer des gerade entstandenen Linksbündnisses Front Populaire und finde hinter der diskreten Tür von vorhin endlich die Treppe zum Dach. Es ist mit Kunstrasen ausgelegt und voller chilliger Leute im Gespräch auf Hockern, Bänken und Liegestühlen.

Ich weiß, dass das, was ich heute schreibe, in zwei Wochen hinfällig sein wird. Genau deswegen will ich es festhalten. Auf dem Flyer steht: Il ne nous reste plus que quelques jours pour écrire l’histoire de notre pays. Uns bleiben nur noch wenige Tage, die Geschichte unseres Landes zu schreiben. In einer Woche finden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt, dem Unterhaus des französischen Parlaments. Sieben Tage später der zweite Durchgang. Geht es nach den Umfragen, wird sich die extreme Rechte durchsetzen, also von den extremen Rechten die angeblich etwas weniger extremen Rechtspopulisten, seitdem es Eric Zemmour und seine Partei Reconquête gibt, »Rückeroberung«. Dieses Dach unter den Füßen, das leuchtende Orange in manchen Gläsern auf Unschuldhimmelblau erzählen von einer anderen Rückeroberung: Chillen im Vakuum.

Nachher wird im Rahmen der Fußballeuropameisterschaft Deutschland gegen die Schweiz spielen. Davon, und wie die Franzosen sich bald auf dem Spielfeld schlagen werden, handelt das Gespräch am Nachbartisch unter den drei Männern in ihren Dreißigern. Werden sie wählen gehen? Oder abwarten und Spritz trinken?

Der Tag ist viel zu schön für besorgte Blicke in die Zukunft, dennoch frage ich die drei Männer am Nachbartisch, ob die Wahlen für sie ein Thema sind. Ja, sie werden wählen gehen, wahrscheinlich blanc, das ist die Farbe Weiß, also niemanden. In Deutschland wählt man mit einem Kreuz, in Frankreich schiebt man das Zettelchen seiner favorisierten Partei in einen Umschlag. Oder eben keins, wenn man blanc wählt. Bis heute wird eine solche Proteststimme nicht mitgezählt. Meine Großmutter tat das gerne und kommentierte es, aber ich war damals zu jung zu begreifen, was ihre Entscheidung zur Folge hatte. Oder zur Folgenlosigkeit.

»Was erhoffen Sie sich davon, wenn Sie eine ungültige Stimme abgeben und Anderen die Verantwortung überlassen?« möchte ich wissen. »Sind Sie sicher, dass sie nicht zählt?« fragt einer. Aber sein Kumpel weiß das schon und bemerkt hinterher: »Wir sind sowieso nicht relevant für Paris, wir wählen woanders.« Der unglücksselige Abstand zur Hauptstadt, da ist er wieder.

»Es betrifft doch das ganze Land«, werfe ich ein, »wohin wünschen Sie sich denn, dass es geht?« Alle drei studieren die Tischplatte, einer nimmt einen Schluck Spritz, der andere keinen und schluckt trotzdem. »Tja, wir stecken zwischen zwei Extremen und finden uns in keinem wieder!« Die anderen nicken. Mit dem linken Extrem meint er den Kommunisten Mélenchon, der der gemäßigten Linke ein Dorn im Auge ist. Ich erwähnte ihn schon in dem Beitrag Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy.

»Also werden Sie sich nicht positionieren?«, hake ich nach. »Doch, schon«, sagt der, der eben noch blanc wählen wollte. »Aber wir wollen nicht darüber reden. Wählen ist eine private Angelegenheit.«

Diese Verschlossenheit ist mir neu in Paris. Bisher war es so, dass die Wählenden frei heraus sagten, wo sie stehen. Sie sind in Paris vielfach links der Mitte vertreten. Die Wähler von rechts außen sind vielleicht weniger redselig. Oder ich kenne sie noch nicht. Was verschweigen die Schweigenden? In gut zwei Wochen werden wir wissen, welche Aussage die Wahlurnen daraus ziehen werden.

Also doch abwarten und Spritz trinken. Und über die neuesten Tipps für Macron schmunzeln, die auf Aufklebern in den Straßen der capitale zu sehen sind: »Geh und mach deine Kunsttherapie – Iss deinen Pimmel – Absetzung!«. Aber wann ist Macron schon auf den Straßen in Paris und liest, wie er seine Zukunft gestalten soll?

Ein Aufkleber auf einer Straße in Paris mit Ratschlägen unter Macrons Portrait: »Geh und mach deine Kunsttherapie – Iss deinen Pimmel – Absetzung
Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Thomas Dutronc bei der Trauerzeremonie für seine Mutter Françoise Hardy im Friedhof Père Lachaise. Links sitzen Brigitte Macron, Expräsident Sarkozy und Carla Bruni

Paris am 20. Juni 2024. Im Gegensatz zu Françoise Hardys Lied Jamais synchrones, Nie synchron, also nie gleichzeitig, das ihre Beziehung betraf, herrscht eine seltsame Synchronizität im Juni 2024: Vor kurzem hat Emmanuel Macron die Zukunft Frankreichs auf einen Spieltisch geknallt. Monsieur le Président löst nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Europawahlen mit überwältigendem Erfolg für Marine Le Pens Rassemblement National die Assemblée Nationale auf. Frankreich steht unter Schock.

Zwei Tage später, am 11. Juni 2024, postet Thomas Dutronc drei Worte über Instagram, geschmückt von roten Herzen:

Maman est partie. Mama ist von uns gegangen.

Maman, das ist Françoise Hardy. Eine intime Nachricht. Als hätten wir im engsten Kreis auf einer Sitzbank vor ihrem Zimmer darauf gewartet, dass ihr Sohn die Tür öffnet, leise wieder schließt und uns Bescheid gibt. Wir, das ist seine Familie, zu der ich nicht gehöre, aber gerade ist ganz Frankreich seine Familie, dann bin auch ich Teil von ihr.

Diese Nachricht landet mitten in der Aufregung, die uns in Frankreich erfasst hat. Wenn wir an Françoise Hardy denken, denken wir an ihre Stimme von rarer Sanftheit, die für so viele in Frankreich Erinnerungen an Momente weckt, in denen ihre Worte unseren Herzschmerz linderten. Ihre Lieder waren nie politisch, und auch darum verwirrt ihre Tonalität und kommt sie gerade recht. Sie hat mit all dem nichts zu tun, und ich wünschte, ihre warme, private Stimme würde sich über den Wahnsinn legen und alle beruhigen.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Das Leben besteht aus Teilen ohne Verbindung. Das ist der Satz, den Françoise Hardy und Alain Delon in ihrem Duett Modern Style wiederholen. Aber heute, am Tag der Bestattungszeremonie von Françoise Hardy auf dem Friedhof Père Lachaise, finden Teile zusammen, die sonst nicht zusammenfinden.

Um kurz vor 13 Uhr treffen meine Tochter und ich uns an der Metrostation Gambetta. Sie muss Homeoffice machen, wir gehen dafür in ein Café. Wir kommen an einer Mauer mit einem neuen Graffiti vorbei: Front populaire steht in rot gesprüht, darunter ein Smiley. Front populaire ist der in den letzten Tagen in der Not entstandene Zusammenschluß linker Parteien, von denen nicht alle zusammenpassen. Vor allem der gerissene Demagoge Mélenchon, Kopf der Partei La France Insoumise, Unbeugsames Frankreich, als Antisemit verschrieen, kein Freund der EU und auch keiner von Deutschland, ist vielen nicht geheuer und schadet dem linken Zusammenschluss. Es geht, mal wieder, um die Rettung vor Rechtsextremisten, die wegen noch extremerer Ansichten in der Parteilandschaft Frankreichs nun Rechtspopulisten genannt werden, und diesmal mehr denn je um die Rettung der Demokratie. Was in Frankreich geschieht, betrifft ganz Europa. Frankreich ist sauer auf Macrons Zockerei.

Vorhin ist meine Tochter mit dem Zug angekommen, mein Sohn wird Stunden später anreisen. Am Abend wollen wir ins Restaurant Casanova in Vitry-sur-Seine gehen, gleich unter Paris, das meine Schwester und mein Schwager 13 Jahre lang betrieben haben und jetzt verkaufen. Für diesen Abschied, den wir als Vorwand für eine Zusammenkunft erfunden haben, finden wir uns in Paris ein.

Kurz vor 15 Uhr kündige ich an: »Ich gehe jetzt zur Bestattungsfeier von Françoise Hardy«. Hunderte von Fans, die Françoise Hardy die letzte Ehre erweisen wollen, haben sich bis auf die Terrassen des Kolumbariums links und rechts des Krematoriumgebäudes aufgestellt. Nach und nach trudeln die Celebrities ein. Thomas Dutronc und sein Vater, der Sänger und Schauspieler Jacques Dutronc, Françoise Hardys große Liebe, sind bereits drin. Sie lebten schon lange getrennt, telefonierten aber noch jeden Tag miteinander. In Monticello auf Korsika, wo ihr Haus steht, soll die Urne beigesetzt werden.

Am Krematorium-Kolumbarium des Friedhofs Père Lachaise verabschieden sich Fans von Françoise Hardy

Es erscheinen Nicolas Sarkozy und seine Ehefrau, die Sängerin Carla Bruni, bald auch Brigitte Macron ohne ihren Mann. Es ist besser so. Von einigen wird sie stellvertretend für ihn ausgebuht, von anderen beklatscht. Wenn er kein Chaos angerichtet hätte, wäre wahrscheinlich auch er dabei, wie bei jedem Verlust eines französischen Superstars, letztes Jahr noch für Jane Birkin. Dann kommt der Sänger Etienne Daho, der fast Familienmitglied geworden und auch in Françoise Hardys letzten Stunden anwesend war. Und schließlich viele Stars, die im Ausland weniger bekannt sind, aber auch Adamo und der Regisseur François Ozon.

Meine Tochter kommt nach. Noch stehen wir draußen auf dem linken Flügel des Kolumbariums. Von dort aus sehen wir einen Seiteneingang ins Krematorium, das aber ein ganzes Gebäude ist, wie eine riesige Friedhofskapelle, für alle und keine Religionen gleichermaßen geeignet und genutzt. »Kann man eigentlich nur auf Einladung da rein?« fragt sich ein Mann im Selbstgespräch. Ich nehme seinen Gedanken auf.

Mutter und Tochter betreten den erspähten Seiteneingang. Wir gehen eine Treppe hoch, die zu einer geschlossenen Tür führt. Dann eben wieder runter, dort tritt meine Tochter in einen Aufzug, ich folge ihr. Sie drückt auf -1. Auf -1 öffnet sich die Tür. Eine Frau auf der Treppe gegenüber fragt: »Wo wollen Sie hin?« Schon schließt sich die Tür, wir fahren in den ersten Stock. Dort fragt eine Frau: »Kommen Sie für Françoise?« Wir sagen ja, weil es wahr ist, und treten ein.

Wir befinden uns im Raum der Zeremonie im engen Kreis und schleichen uns ganz nach hinten an eine Säule. In der vordersten Reihe links sitzen die eben aus der Ferne Wahrgenommenen: Brigitte Macron unter ihrem blonden Haarhelm, an ihrer Seite wedelt die markante Nase von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy neben den langen Haaren von Carla Bruni. In der ersten Reihe rechts vom Mittelgang sitzen ein uns Unbekannter neben Jacques Dutronc, seinem Sohn Thomas und Etienne Daho. Den ersten Platz der zweiten Reihe belegt der Fotograf Jean-Marie Périer, Françoise Hardys erster Liebespartner. Dieser lebenslange Freund hat ihr in alle möglichen Karrieren geholfen und wohl die meisten schönen Fotos von ihr in den ersten Jahren ihrer Berühmtheit gemacht. Er ist auch in einer Doku über sie zu sehen, die aus Anlaß ihres achtzigsten Geburtstags seit Monaten auf Arte läuft.

Wir sind jetzt Teil des intimen Kreises.

Ich kenne dieses Gebäude, ich kenne die Kanzel rechts. Von der aus habe ich zum Tod meines Vaters eine Rede voller Hoffnung gehalten, weil sein Sterben so geschmeidig verlief. Das wollte ich damals zum Trost der anwesenden Trauernden mitteilen. Heute wird keine Rede gehalten. Wir hören Françoise Hardys Stimme aus einem Interview. Dann erhebt sich ihr Sohn und sagt, es gebe technische Probleme, das Band liefe zu schnell ab. Das war schon damals so, als es um meinen Vater ging. Thomas Dutronc geht zum Technikpult rechts und wieder zurück, wendet sich an uns Teilnehmende, ob alles nochmal abgespielt werden soll, in der richtigen Geschwindigkeit. Keiner antwortet. Als Françoise Hardys Sarg die Stufen hoch getragen wird, ertönt ihr Lied Message Personnel. Ihre eigene Stimme begleitet sie, die lebendige Françoise steht der verstorbenen bei.

Der Zeremonieraum des Krematoriums Père Lachaise nach der Trauerfeier für Françoise Hardy

Ich erinnere mich. Es ist mehr als 30 Jahre her. Ich unterhielt von Paris aus mit einem Mann eine intensive Beziehung, die auf der Kippe stand. Ich half mir mit dem, was ich hatte. Ich nahm eine Kassette auf und schickte sie zu ihm nach Deutschland. Das erste Lied war Message Personnel, es beginnt so:

Au bout du téléphone, il y a votre voix
Et il y a les mots que je ne dirai pas
Tous ces mots qui font peur quand ils ne font pas rire
Qui sont dans trop de films, de chansons et de livres
Je voudrais vous les dire
Et je voudrais les vivre
Je ne le ferai pas
Je veux, je ne peux pas

Am Ende der Telefonleitung ist Ihre Stimme
Und die Worte, die ich nicht aussprechen werde
All diese Worte, die Angst machen, wenn sie nicht zum Lachen bringen
Die in zu vielen Filmen sind, in Liedern und Büchern
Ich möchte sie Ihnen sagen
Und ich möchte sie leben
Ich werde es nicht tun
Ich will es, ich kann es nicht

Und ja, diese Kassette, vor allem dieses erste Lied, in dem Françoise Hardy ausdrückte, was ich fühlte und mich nicht traute zu sagen, und wovon sie sang, sie traue es sich auch nicht, trug dazu bei, dass wir wieder zusammenkamen. Mein späterer Mann sagte dazu: Das ist gemein! Er unterlag – gerne – dem Zauber, aus dem heraus viel später zwei Kinder geboren wurden.

Ich höre dieses Lied in diesem Ort, sehe den Sarg und weiß um den Menschen darin. Ich blicke meine Tochter an, die neben mir steht. Es kann sein, dass diese Tochter und dieser Sohn, der nachher kommt, wenn all das vorbei ist, nie existiert hätten, wenn Françoise Hardy dieses Lied nicht gesungen hätte.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Ja. Aber manchmal kommen diese Teile doch zusammen, und manche werden ganz lebendig, werden Menschen und tragen einen Vornamen. Und einen Nachnamen, der auch meiner ist. Und stehen jetzt neben mir, oder kommen nachher mit dem Zug an. Und das ist mein message personnel an Françoise Hardy: Françoise, Sie können vermutlich was dafür. Merci. So viel merci wie nie.

Serge Gainsbourg und das genaue Wort

Serge Gainsbourg und das genaue Wort

Serge Gainsbourg blickt von der Mauer seines Hauses in der rue de Verneuil in Paris

Wie die richtigen Worte finden, um den Pianisten, Sänger, Komponisten, Dichter, Schauspieler, Filmemacher, Provokateur und Förderer weiblichen Gesangs Serge Gainsbourg aus seiner Gefangenschaft als Urheber vornehmlich des Du-weißt-schon-Liedes zu befreien? Im Ausland wird er oft nur als Komponist von Je t’aime… moi non plus wahrgenommen, das er 1967 für Brigitte Bardot ersann, nachdem sie ihn um das schönste Liebeslied gebeten hatte, das er sich vorstellen könne. Sie hatten zusammen eine Affäre. Ihr Ehemann, Gunther Sachs – ja, der, du weißt schon! – sperrte sich gegen die Veröffentlichung, und so wurden 40 000 Singles eingestampft und Jane Birkin zwei Jahre später zum hauchenden Skandalstar.

Welchem Skandal genau? Ich weiß nicht, wie oft ich im Laufe meines Lebens nach einer Übersetzung allein des Titels Je t’aime… moi non plus gefragt wurde. Zu Recht, ich verstand den Sinn eine ganze Weile selbst nicht! Wörtlich ist er im Deutschen nur schwerfällig wiederzugeben: Ich liebe dich… ich dich auch nicht. Auf Englisch funktioniert das Unmögliche geschmeidiger: I love you… me neither.

Der wirkliche Skandal ist, dass das Oh-là-là-Image dieses Stücks in krudem Gegensatz zur Tiefgründigkeit seines Titels steht: In der Welt noch immer vor allem als erotische Stöhnhymne eines vermutlich als dauerkopulierend fantasierten französischen Volkes wahrgenommen, enthält es in einer Zeile die unendliche Geschichte der Liebe und umarmt dabei gleichzeitig… die Nichtliebe. Vielmehr als die Geschichte von du liebst mich, aber ich liebe einen anderen, oder andersherum, führen diese sechs Worte an den Abgrund der Liebe. Gar an eine philosophische Hinterfragung: Gibt es Liebe? Was ist sie überhaupt? Kann es sie geben, wenn sie nicht erwidert wird?

Was Gainsbourg noch alles konnte, zeigte bis zum 3. September 2023 eine kleine Ausstellung in der frei zugänglichen Bibliothek des Centre Pompidou: Serge Gainsbourg – le mot exact. Ja, es geht um die Genauigkeit des Wortes.

Tatsächlich bezog der ehemalige Barpianist mit ukrainischen Wurzeln für seine Texte die größte Inspiration aus der Literatur, und es sind in seinen Liedern etliche Verweise auf sie zu hören. Daher ist neben den Manuskripten und einigen Utensilien eine Auswahl seiner liebsten Bücher ausgestellt.

Als Besucher die französische Sprache zu beherrschen ist hilfreich und macht Spaß. Doch gibt es über den Inhalt der Worte hinaus die Sprache des Schriftbilds. Gainsbourg war ein feiner Zeichner, und die Faszination des historisch gewordenen Dokuments, das mal ein bloßer Zettel war, nach dem hastig gegriffen wurde, um eine Idee festzuhalten, wird im Gesamtbild zahlloser Kritzeleien vermittelt.

Versuche, Irrungen, Streichungen auf dem Weg zum fertigen Liedtext illustrieren das beharrliche Heranfühlen, auch für einen, der heute als Genie bezeichnet wird. Wie eine Schnecke musste er auf dem Pfad zum genauen Wort jedes abtasten, ob es in seiner Bedeutung, seiner Musikalität, die Laute malen konnte, die sich mit den Worten seiner Umgebung verbinden sollten.

Ob er ein Genie war, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall war er ein touche-à-tout, ein Allesanfasser: Ein Neugieriger, der in permanenter Verführung, sich auszuprobieren, alles anrührt. Es gibt in seinem Werk viel Spielerisches, Witziges, Großartiges, Mittelmäßiges. Klar ist: Gainsbourg gehört, noch immer, zum patrimoine culturel, zum Kulturerbe Frankreichs.

Außenstehenden ist schwer vermittelbar, welchen Platz er, Jane Birkin und deren schauspielende und singende Tochter Charlotte im französischen Volk noch heute einnehmen. Die dreistündige Trauerfeier der kürzlich verstorbenen Birkin wurde live übertragen, auf Bildschirmen vor der Kirche Saint-Roch sowie im Fernsehen und im Internet, jetzt ist sie noch in voller Länge auf YouTube nachzuverfolgen. Emmanuel Macron meldete sich aus der Ferne zu Wort, seine Frau Brigitte war mit einer Unmenge französischer Stars anwesend, darunter Catherine Deneuve. Viele verfolgten die herzzerreißenden Worte der beiden übrig gebliebenen Töchter Birkins, Charlotte Gainsbourg und Lou Doillon, deren Vater der Filmemacher Jacques Doillon ist.

Im September 2023 wurde Charlottes jahrelang aufgeschobenes Projekt verwirklicht, das Haus ihres Vaters in der rue de Verneuil der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit all den Kuriositäten, die er ansammelte. Schon zu seinen Lebzeiten war es eine Art Tempel: Auf der Mauer zur Straße hin hinterließen Fans ihre Liebeserklärungen. Ein paar Häuser weiter ist ein Museum entstanden. Die Tickets für die „House & Museum Tour“ waren vor Monaten schon ausgebucht.

In Frankreich haben wir in den Achtzigern und darüber hinaus mit dieser Familie gelebt, ihre Lieder gehört und gesungen, ihre Auftritte und neuen Platten abgewartet, ihre Skandale verfolgt und ihre Abgründe, Trennungen und Neuordnungen mitgekriegt. Wir haben mit ihnen gezittert, gestaunt und geweint, selbst wenn wir es nicht wollten. Sie waren omnipräsent. Dabei haben sowohl Gainsbourg als auch Birkin Kinder aus anderen Verbindungen, diese wurden teilweise ebenfalls publik. Als die Beziehung mit Jane Birkin zerbrach, fand sich Gainsbourg mit seiner letzten Frau zusammen, Bambou, und wurde Vater von Lulu, Lucien Gainsbourg. Auch dieser ist in einem Lied verewigt worden, das sein Vater komponierte. Ein Meisterwerk ist es nicht, seine Mutter trug das nicht einmal mittelmäßige Stück ohne jegliche Begabung vor.

Vorher hatte Gainsbourg die – teilweise – fragwürdigen stimmlichen Talente der größten Stars auszuheben versucht und veröffentlicht: Brigitte Bardot, Françoise Hardy, France Gall, Isabelle Adjani, Catherine Deneuve, Fanny Ardant sangen seine eigens für sie komponierten Lieder.

Serge Gainsbourg ist 1991 gestorben. Ich habe ihn 1988 auf seiner letzten Tournee im Zenith erlebt, einer großen Konzerthalle in Paris. Weil er in seinen dreiunddreißig Jahren Musikkarriere statt allmählich zu vergilben sich permanent erneuerte, fanden sich im Publikum alle Generationen vertreten. Selbst in den kurzen Momenten, in denen er nichts sagte, nicht sang, nur ganz leicht auf der Bühne wankte, war der Saal erfüllt von einer Zartheit. Er konnte noch so sexbezogen provozieren: Zu spüren war ein zerbrechlicher kleiner Junge im Körper eines sechzigjährigen Kettenrauchers mit Leberzirrhose.

Dank Serge Gainsbourgs erstem Erfolg »Le poinçonneur des Lilas« überlebt das Metroticket in gekachelter Version auf der Mauer seines Hauses.

In seinem ersten Erfolg als Sänger nahm er in »Le poinçonneur des Lilas« seine letzte Ruhestätte vorweg. Bevor das Metroticket maschinell entwertet wurde, stanzte der poinçonneur mit einem Gerät ein kleines Loch hinein. Der Refrain des Liedes, in dem der poinçonneur an seiner Bedeutungslosigkeit und der Monotonie seiner Tätigkeit verzweifelt, geht so: J’fais des trous, des p’tits trous, toujours des p’tits trous. Ich mache Löcher, kleine Löcher, immer kleine Löcher. Am Ende singt er: Et on m’mettra dans un grand trou et j’n’entendrai plus parler d’trous, de petits trous. Man wird mich in ein großes Loch stecken und ich werde nicht mehr von Löchern hören, kleinen Löchern. Wie es um das Metroticket heute bestellt ist, steht übrigens in dem Beitrag »Adieu, kleines Metroticket«.

Wer eine ganz andere Hymne von Serge Gainsbourg hören will als Je t’aime… moi non plus, kann sich La Javanaise anhören, ein in Gitarre und sanftem Rhythmus gebettetes Chanson voller Geigen und Shalala mit elegantem Text, das Gainsbourg 1963 für Juliette Gréco schrieb, später selbst sang. Nicht nur meine Großmutter nahm es wieder auf, während sie Teller abtrocknend um ihren Küchentisch tanzte, sogar Iggy Pop und Manu Dibango, auch die Jazzsängerin Madeleine Peyroux und viele andere. Und natürlich sang es Jane Birkin auf ihren Konzerten, lange, nachdem Gainsbourg in dem großen Loch begraben war.

Fast alle in Frankreich kennen La Javanaise und können es anstimmen. Ein Satz lautet: J’avais envie de voir en vous cet amour. Ich wollte in Ihnen diese Liebe sehen. Am Ende mag ein Teil französischer Seele vibrieren: Nous nous aimions le temps d’une chanson. Wir liebten uns für die Dauer eines Liedes.

Aber hey, bevor das nächste Klischee entsteht: Das heißt nicht, Französinnen und Franzosen könnten nicht länger lieben als die zweieinhalb Minuten dieses Stücks. Nur, dass manche unter ihnen auch in einem Lied alles zu träumen bereit sind. Womit ein neues Klischee erschaffen wäre. Oder ist es uralt?

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Dieser Beitrag von August 2023 wurde an Serge Gainsbourgs 96. Geburtstag am 02.02.2024 aktualisiert.

Es gibt ihn auch auf Niederländisch im Magazin für Kunst und Kultur »Zout Magazine« zu lesen: Als een slak op weg naar het juiste woord – over Serge Gainsbourg

Um den Finger gewickelt: Der Schmuck(er)finder Bruno Caby

Um den Finger gewickelt: Der Schmuck(er)finder Bruno Caby

Früher als erwartet­­ verlasse ich eine Galerie im Marais, im Kopf noch die großformatigen Malereien meines Bruders. Ich habe Zeit zu verplempern und schlendere durch die Straßen des dritten Arrondissements, bis ich in der rue Vieille du Temple vor dem seltsamen kleinen Exponat eines Schmuckgeschäfts halte.

Die sanften Wölbungen und unterschiedlich großen Waben eines silbernen Rochens ziehen mich in ihren Bann. Obwohl er an einer Kette hängt, scheint er zu schweben. Wie ist es möglich, dass dieses Stück so organisch wirkt? In einem anderen Teil des Schaufensters sehe ich Wortringe und Kettenanhänger, die aus ganzen Sätzen bestehen. Ich versuche, den mir abgewandten Teil zu erraten. Auf einmal steht ein Mann neben mir und lädt mich ein, weitere Kreationen in seinem Geschäft zu entdecken. Er ist so freundlich, ich lasse mich darauf ein.

Die Seite gegenüber dem Eingang ist eine offene Werkstatt. Ein anregendes Sammelsurium, das sich zunächst vor allem als Landschaft begreifen lässt, wirkt dann wie das ausgebreitete Universum des imposanten Gorillakopfes aus silbernem Metall, der davor ruht. Er ist dem Ladenteil mit den Vitrinen zugewandt, scheint, den Mund skeptisch verzogen, in eine Unterwelt zu blicken. Diesen Kopf könnte ich sofort mitnehmen. Ich halte mich zurück und wende mich den sorgfältig ausgewählten Ausstellungsstücken zu.

In dieser Ladenwerkstatt mitten in Paris erfindet und fertigt Bruno Caby seine Schmuckstücke.

Während ich Text und Form der Kettenanhänger begutachte, beginnt Bruno Caby zu erzählen, seine gesprochenen Worte verweben sich mit den zu Metall gegossenen. Er sei mal Industriedesigner gewesen und über Umwege als Autodidakt zum Schmuck gekommen. Fasziniert von Worten, habe er gleichzeitig unter einer Leserechtschreibschwäche gelitten, die ihm das Leben erschwert habe. »Schließlich habe ich die Situation umgekehrt und Worte zu meinem Objekt gemacht.« Ohne diese „Schwäche“, weiß er, hätte es dieses Geschäft nicht gegeben: »Auch deswegen heißt mein Geschäft Beautiful Accident

Nun hat er die Buchstaben, und wie sie zusammenfinden, im Griff. Er experimentiere noch mit anderen Sprachen als Französisch, es funktioniere nicht mit allen. Die diakritischen Zeichen in manchen Sprachen – also diese Dingerchen, die um die Buchstaben herumscharwenzeln wie der Umlaut bei äöü, die Tilde auf mañana oder das accent circonflexe in tête (de gorille) – erforderten viel Fantasie.

Unter den Neugierigen, die wissen wollten, wie er Buchstaben und Zeichen technisch zusammenführen könne, hätten manche verzweifelt versucht, seine Technik zu kopieren. »Die Menschen suchen oft nach etwas Kompliziertem, aber im Grunde ist es ganz einfach. So einfach, dass sie nicht darauf kommen.« Ich gucke ihn an: »Und, wie machen Sie das?« Er lächelt. »Das bleibt mein Geheimnis.« Bruno Caby hat für seine Kreationen ein Patent angemeldet.

In unserer Gesprächspause fällt mir ein: »Willst du ins Schwarze treffen, ziele daneben.« Immer wieder stellt sich diese Empfehlung als weise heraus, meistens in der Rückschau auf eine Situation, in der jemand etwas unbedingt wollte, erfolglos. Stattdessen bekam, was er nicht erwartet hatte.

Wir führen unser Gespräch fort: Eine Gruppe von Freundinnen und Freunden habe bei ihm ein besonderes Geburtstagsgeschenk bestellt, einen Ring mit ihren Namen. Ich denke an Eheringe und die Zweisamkeit der Ehen, die gehen und manchmal vergehen. Freundinnen und Freunde, die Namen dieser vielleicht lebenslänglichen Begleitpersonen, um den Finger zu wickeln, das ist, zumindest für mich, etwas Neues. Und dann habe es noch die Bestellung eines Freundschafts-Armbands gegeben. In ihm habe Caby neben den Namen der Freunde auch ein von jedem ausgesuchtes Schlüsselwort eingearbeitet, das die Beziehung mit der beschenkten Person verband. Eine Hymne auf die Besonderheit jeder Freundschaft, die man am Arm tragen kann.

Meine Augen wandern wieder von einem Gebilde zum nächsten. Vor einer Art Meeresschnecke frage ich, ob es den Begriff bionique noch gibt. »Meinen Sie biomimétisme?« Im Deutschen wird beides noch gebraucht, Bionik und Biomimetik. »Ich arbeite auch mit dem Schwammkürbis.« Ah ja, denke ich, unser Freund der Schwammkürbis, und lande in meinem Hirnarchiv bei der Seegurke. Nein, es geht nicht um Seegurken, stellt sich heraus, sondern um Luffa, aus dem auch Peelingschwämme hergestellt werden. Er lasse Wachs über das pflanzliche Feingewebe fließen, erklärt Caby, wobei die Luffastruktur sich unter den hohen Temperaturen auflösen würde. In die entstandene Wachsstruktur würde Metall gegossen. Heraus käme ein Schmuckstück aus zartem Fädengewirr, eine Art Negativ zum Ursprung. Auch das ist Beautiful accident. »Es ist leichter etwas zu finden, wenn man nicht weiß, was man sucht. Einfach mit dem Material experimentiert.« Morphogenese, ein Begriff aus der Evolutionsbiologie, ist hier im Kopf und in den Händen am Werk.

Poesie zum Anfassen: Das Gedicht »La beauté« aus »Les fleurs du mal« von Charles Baudelaire von Bruno Caby neu verfasst

Mit den Augen ertasten macht Spaß, reicht mir dann doch nicht. Ich habe die Kette mit dem Rochen noch nicht ausgezogen, als Caby mit etwas Untragbarem kommt. »Schauen Sie mal. Hier habe ich das Gedicht La beauté von Baudelaires Les fleurs du mal verarbeitet.« Die Schönheit aus Die Blumen des Bösen. Eine schleifenartige Acht aus Buchstaben, die das Gedicht ergeben. Er versucht es vorzulesen. Die Buchstaben kleben aneinander, die Lesart ist ungewohnt. Wir lachen.

Als ich das Geschäft verlasse, gucke ich mir nochmal den Rochen im Schaufenster an. Charles Baudelaire ist der Autor von Le spleen de Paris. Auch Caby hat einen Spleen, und der steckt in jedem seiner Schmuckstücke. Seine Experimentierfreude, sein liebevoller Blick, seine poetische Vision leiten ihn von Findung zu Findung, bis in die Hände. Erst seine, dann unsere.

In einem Dorf in Paris

In einem Dorf in Paris

Bei „Chez Gladines“ hat die Street Art Künstlerin MissTic das Tragen des Gehirns zur Pflicht erklärt.

Vor kurzem schrieb mir jemand und erinnerte mich an eine sympathische Begegnung; auch an die Stimmung im Frühsommer 2022. Wir (Menschen) tasteten uns noch durch die zeitlichen Ausläufer der Pandemie in eine neue alte Welt. Wie frisch aus der Reha entlassen. Was äußerlich wie früher wirkte, nahmen wir zugleich als Täuschung wahr. Wir hatten das Normale lange vermisst, teilweise verlernt. Mit einem kleinen Selbstbetrug, das meiste sei doch wie früher, lernten wir allmählich wieder, uns in der Öffentlichkeit zu zeigen, zu bewegen, miteinander zu kommunizieren. Noch im Sommer waren wir uns selbst ein Frühling, blühten mit jeder Wiederentdeckung neu auf.

Flashback: Der Kalender zeigt den 25. Juni 2022 an. In einem Dorf in Paris. Das Viertel La Butte aux Cailles liegt im dreizehnten Arrondissement und ist von ein paar Sträßchen mit niedrigen Häusern durchzogen. Wer es kennt, weiß um seine knapp befüllten Portemonnaies freundlich gesonnenen Gastronomie, seinen sozialistischen Geist, seinen Zusammenhalt in dörflicher Atmosphäre. Ähnlich Belleville, das im 20. Arrondissement liegt. Und ganz anders als das Pariser Chinatown, nur ein paar Straßen entfernt und genauso typisch für das treizième, das Dreizehnte (Arrondissement).

Die Butte aux Cailles ist auch bekannt für ihre Street Art Tags. Auf der rechten Außenwand des baskischen Restaurants Chez Gladines verfügt Miss.Tic: Port du cerveau obligatoire. Tragen des Gehirns verpflichtend. Ich blicke mich um. Kontrolliert das jemand? Jedenfalls nicht die berühmte Pariser Street Art Künstlerin, sie ist letzten Monat leider verstorben. Ohne klare Antwort, ob ich einzutreten berechtigt bin, finde ich mich zwischen rotweiß karierten Tischdecken wieder. Gläser spülend grüßt der Barkeeper und weist mir einen Platz zu. Endlich wieder hier, höre ich mich hinter keiner Maske murmeln.

Noch während meiner Nachforschungen am eigenen Wesen darüber, wie sich »neue Normalität« hier im Restaurant anfühlt, wird mir ein Tischnachbar zugeteilt. Bonjour! Er setzt sich schräg gegenüber von mir. Sich unter Unbekannten einen Tisch zu teilen, ist in Frankreich nicht üblich, die meisten Tische sind dazu viel zu klein, oft berühren sie sich fast. Aber im familiären Chez Gladines, vor dem häufig hungrige Menschen Schlange stehen, läuft es anders. Das erste, was ich wissen muss: Gibt es sie noch? Die Escalope montagnarde, eine schmackhafte Spezialität des Hauses, die einen für den Rest des Tages umhaut: Ein Kalbschnitzel mit Kartoffeln, Schinken, Käse aus dem Cantal, on top noch Champignoncremesoße.

Der freundliche Herr studiert wie ich die Speisekarte, wir kommen darüber ins Gespräch. Ich warne ihn vor der Spezialität, falls er noch etwas vorhabe: Wenn Sie wirklich mit Hirn reinkamen, finden Sie es beim Rausgehen nicht wieder! Er bestellt einen Poulet basquaise, ein baskisches Huhn mit Reis.

Happen um Happen erfahre ich, dass er ein frankophoner Amateur-Opernsänger mit russischen Wurzeln ist. Un chanteur lyrique. Wir sprechen davon, wie wir uns langsam in ein neues Leben einfinden. Er möchte wieder singend auftreten, am liebsten als Blaubart in Jacques Offenbachs gleichnamiger Operette. Immerhin, den Bart trägt er schon. Ich kommentiere mein Vorhaben, am nächsten Tag der außergewöhnlichen Veranstaltung von Wajdi Mouawad im Théâtre La Colline beizuwohnen. Von dieser habe ich in dem Beitrag Mit Toten im Theater berichtet.

Es stellt sich heraus, dass er von Mouawad genauso begeistert ist wie ich. Was sich sonst noch herausstellt? Das meiste unseres Gesprächs habe ich vergessen. Verdammt, ich kann es nicht mal auf das Bergschnitzel schieben! Aber das weiß ich noch: Er verspricht mir, mich anzuschreiben, wenn ein Auftritt in Aussicht steht. Wir tauschen unsere Mailadressen aus, er geht. Bevor ich das Lokal verlasse, kehre ich nochmal zurück und greife nach der Quittung, die er auf dem Tisch hinterlassen hat. Wozu? Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, dass ich später einen Blog feelingparis.net über dieses Pariser Gefühl beginnen werde.

Nun, über ein Jahr später, hat er mich angeschrieben. Ich werde ihm diesen Beitrag schicken und ihn fragen, was er von unserer Begegnung noch weiß. Davor und danach werde ich das anhaltende Glück der zufälligen Begegnungen genießen. Überall auf der Welt, und oft in Paris. Mich freuen, dass wir die Stadt im Dorf und das Dorf in der Stadt wieder maskenlos erleben können. Feeling Paris? Dazu braucht es kein Hirn. Und schon gar keine Maske. Vielleicht mal ganz was anderes. Ich denke da an einen blauen Bart.

Metrotickets im aktuellen, weißen Gewand, auf einem aufgeschlagenen Kinderbuch von 1984: Da waren sie fröhlich gelb.

Adieu, kleines Metroticket

Metrotickets im aktuellen, weißen Gewand, auf einem aufgeschlagenen Kinderbuch von 1984: Da waren sie fröhlich gelb.
Metrotickets im letzten Gewand, auf einem aufgeschlagenen Kinderbuch von 1984: Da waren die Tickets leuchtend gelb.

Damals warst Du leuchtend gelb, verhärtet, nummeriert und in der Mitte von einem dunkelbraunen Streifen durchzogen: Du, ticket de métro. Eine Fahrt, ein Ticket. Beim Umsteigen auf eine andere Linie behieltest Du Deine Gültigkeit. Hauptsache, das Umsteigen geschah unterirdisch.

Für mich warst Du auch der Fahrschein zum Glück. Es erscheint mir heute, umgeben von Sicherheitsvorkehrungen, unglaublich, aber ich lud mich in meiner Studienzeit auf dem Weg zur Hochschule in Paris oft ins Fahrerhäuschen ein. An der Station Maubert-Mutualité stieg ich ein. Immer war ich willkommen. Ich liebte das Rasen durch die Lichter der Tunnels. Die frontale, atemberaubende Aussicht bot sich damals nur neben dem Fahrer der Metro. Über die unerwartete Begleitung grinsend, kurbelte er an einer waagerechten Installation auf seinem Steuerbrett herum, während ich den Virus der Geschwindigkeit genoss. So lautet auch der Titel eines inzwischen uralten Artikels des Fotografen und Autors Harald Jahn, einem Wiener Bahnexperten mit vielen anderen Talenten, der heute noch regelmäßig Paris und die Metro abklappert, immer offen für Inspiration, die er gerne in sein Land importieren würde.

Im Bus musste man ein neues Exemplar von Dir lösen. Bus fahren mochte ich ebenfalls, auch wenn es oft den Virus der Langsamkeit enthielt. Trotz eigener Fahrspur war der Bus zeitweise gelähmt, durch unberechtigte Mitbenutzer, einen Stau, eine lahmende Großmutter, eben alles, was den Fluss der Fahrzeuge in Paris blockieren kann. Im Bus war ich oberirdisch mit der Stadt verbunden, mit ihren Gebäuden, ihren Schaufenstern, mit dem Wetter, mit den Menschen, die nach ihm rannten und jenen, die es ignorierten.

Harald Jahn kann den Bus nicht ausstehen, schätzt allerdings aus den gleichen Gründen, aus denen ich ihn liebe, die Vorteile der oberirdischen Fahrt über Schienen, nun über die Straßenbahn, die in Frankreich wieder auferstanden ist. Auch in Paris, wo sie es ermöglicht, statt – um einen Kilometer weiterzukommen – sternförmig zum Zentrum und zurück zu fahren, in Kürze zum nahegelegenen Ziel zu gelangen. Über all das hat Harald Jahn ein bemerkenswertes Buch geschrieben, voller inspirierender Reflektionen über sinnvolle urbane Eingriffe: Die Zukunft der Städte – Die französische Straßenbahn und die Wiedergeburt des urbanen Raumes.

Du, ticket de métro, warst auch immer eine Einladung, etwas zu notieren, das wenig Platz brauchte. Einen Gedanken, eine erste Zeile Gedicht, die man fürchtete, vor dem Aussteigen schon zu vergessen. Womöglich würde sie sich zu einem Werk entfalten. Berühmte Menschen komprimierten ihre Gedanken auf Dir. Hatte man keinen Zettel mehr, fand man Dich noch immer irgendwo auf dem Boden der zu großen Handtasche zwischen Tabakkrümeln, Du ludest zu Kürze und Prägnanz ein. Man konnte Dich auch mit einer Telefonnummer bekritzeln und als Visitenkarte überreichen. Vor einem Termin noch kurz die Zahnzwischenräume und die Trauerränder bearbeiten.

In den ersten Jahren der Achtziger wurdest Du zum Star in der Werbekampagne Ticket chic ticket choc. Später wurdest Du blau mit starkem Grünstich, auch lila, schließlich weiß. Leichenblass. Du ahntest die Auflösung. Deine Konsistenz blieb. Du warst ein Stückchen Festigkeit, das selbst in die kleine Jeanstasche hineinpasste, die eine oberhalb der großen Taschen vorne an den Hüften. Man konnte Dich von außen ertasten. Ein Rechteck aus Pappe, drei auf sieben Zentimeter klein. Nun wirst Du zu Grabe getragen. Du bist schon im kreditkartengroßen pass Navigo digitalisiert, auch auf Handy, Dein langsames Sterben hat längst begonnen.

Mein eigener Vater veranstaltete, als ich noch Kind war, in einer Reihe von Festivitäten um die Metro, auch Le cirque dans le métro. Der Zirkus in der Metro. Er brachte als kreativer Kopf einer Agentur für Beratung in Kommunikation verrückte Dinge zusammen. Notfalls zeichnete er, was mit Worten nicht zu erfassen war: Für das Fest wurde ein Nilpferd in eine Metrostation geschoben. Heute ist das aus anderen Gründen als damals undenkbar.

Ach ja, Du kleines Ticket, Du warst unendlich viel leichter als ein Nilpferd. Was wir jetzt herumtragen müssen, ist größer als Du, schwerer, und passt nicht in die kleine Tasche an den Hüften. Bald können wir Dich nur noch aufladen, virtuell besitzen. Das Smartphone enthält Dich in neuer Form, wie sollen wir darauf eine Zeile Gedicht kriegen? Diese eine Zeile, die wir früher in die Salatschüssel auf unserem Buffet am Eingang unserer Wohnung gleiten lassen konnten, über die wir Jahre später lachten. Von nun an müssen wir unsere Gedanken entweder auf etwas anderem notieren, oder wir vergessen sie.

Auf mein letztes Exemplar von Dir werde ich schreiben: Tu étais le compagnon fidèle de ma pensée éphémère. Du warst der treue Wegbegleiter meiner flüchtigen Gedanken. Ich dachte schon immer, dass Du auf vielerlei Weise ein Wegbereiter warst. Jetzt bist Du dort angelangt, wohin ich fast nie musste, heißt es für Dich: Endstation.

Sei nicht so traurig wie ich. Es geschieht um der Erde willen. Von der schütte ich ein wenig von meinem Schäufelchen auf Dein immaterielles Grab.

Mit Toten im Theater – dank Wajdi Mouawad

Mit Toten im Theater – dank Wajdi Mouawad

Die Fassade des Théâtre La Colline: »Alle halten Euch ihre Fallen hin, Gelehrte, Politiker, Bankiers. Der Dichter reicht Euch seinen Rettungsring und, wenn er kann, seine Hand.«

26. Juni 2022. Heute findet im Theater La Colline in Paris, einem der nur sechs Staatstheater Frankreichs, eine Gedenkveranstaltung für die Toten statt. Der Eintritt ist frei für jeden, der teilnehmen will: A la vie, à la mort. Aufs Leben, auf den Tod. Auf die Bühne bringt sie seit einigen Jahren der außergewöhnliche Schriftsteller, Regisseur und Leiter des Theaters Wajdi Mouawad.

Meinen Camper, ein kleiner Lieferwagen, unauffällig wie das Auto eines Klempners, parke ich in der Rue des Rondeaux, ein paar Meter neben dem Eingang zum Friedhof Père Lachaise. Ich bin gespannt: Dieses Jahr soll der Hingeschiedenen nicht nur mit Lesungen und Gesängen gedacht werden, auch mit einem besonderen, poetischen Experiment.

Die Pandemie wütete, und mit ihr das Sterben in Einsamkeit, als das Theater zu einer individuellen telefonischen Begegnung lud. Wer trauernd zurückgeblieben war und der Einladung folgen wollte, konnte sich einer Schauspielerin oder einem Schauspieler anvertrauen. Sie waren von einer Coachin sorgfältig auf Trauergespräche vorbereitet worden, hörten aufmerksam zu, fühlten sich ein. Am Ende empfahlen sie einen literarischen Text, der Trost spenden sollte. Sie suchten ihn aus ihrem Gefühl heraus aus, zugeschnitten auf die hinterbliebene Person. Worte für die Sprachlosigkeit.

Wajdi Mouawad ist heute, am Abschlussabend, der in Anwesenheit aller Interessierten stattfindet, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne: »Ich suchte nach einem poetischen Moment, keinem esoterischen oder religiösen. Die Worte der Angehörigen sollten sich mit der Asche der Verstorbenen verbinden.« Dann spricht er davon, wie der von einem geliebten Menschen gesetzte Samen erst nach seinem Tod beginnt, im Hinterbliebenen zu keimen. Er weiß, wovon er spricht: Er war 21 Jahre alt, als seine Mutter starb und hat darüber ein bewegendes Theaterstück geschrieben und aufgeführt, in dem er sich selbst spielt: Mère. In einer Szene wendet er sich an sie: »Ich habe diese Szene geschrieben, um mit dir sprechen zu können.«

Die Liveschaltung wird angekündigt, auf einer Leinwand sehen wir in die Kulissen: Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter des Theaters tragen einen Radiorecorder durch die Gänge in höher liegende Stockwerke. Er enthält die Aufzeichnungen der Hinterbliebenen an ihre geliebten Toten. Wir verfolgen die Schritte der beiden, vernehmen die Geräusche jeder Tür, die sie öffnen, wieder führt ein enger Gang durch herabhängende Seile, dann erscheinen Treppen und schließlich die zum Dach des Theaters offene Tür. Auf einmal vereinnahmt der blaue Himmel die Leinwand, mit ihm werden auch die hier und dort verteilten weißen Wolken in den abgedunkelten Theatersaal geholt. Das Draußen ist drinnen. Wir sind in beidem. Der Recorder wird abgestellt. Die Mitarbeiterin hockt sich davor, ihre Hand streicht sanft zum Schalter. Wie lange gefangene Vögel werden die Worte befreit, in den Himmel gesandt. Wir hören sie nicht. Sie gehören denen, die sie gesagt haben und jenen, für die sie bestimmt sind.

Wie viele der Angehörigen mögen jetzt wohl anwesend sein, um endlich diesen Moment nachzuholen, der so gefehlt hat?

Nach langer Kommunikation zwischen den Hinterbliebenen und dem Himmel über Paris sollen die Aufzeichnungen auf einem USB-Stick im Kellerboden des Theaters vergraben werden. In 500 Jahren, so die Hoffnung, wird jemand die Kiste öffnen und die Worte der Verbundenheit abspielen. Mouawad inszeniert damit nicht nur einen Akt der Würdigung, wie er in der Pandemie auch in Paris nicht hat stattfinden können. Er schiebt das Trennende der Religionen und des Atheismus beiseite und sogar das der Vergänglichkeit. Er schafft einen künstlerischen Kosmos, in dem die Verbindung zwischen Tod und einem Leben weit in der Zukunft zelebriert wird. Reparation. Transmission. Ausblick. Sollte diese Kiste niemals geöffnet werden, haben wir zumindest einem poetischen Moment beigewohnt.

Doch zurück zur Wirklichkeit auf der Bühne: Dort findet eine Diskussion statt, die Mouawad selbst moderiert. Auch die japanische Schauspielerin Kaori Ito, die die Idee zu dem poetischen Experiment in Mouawad einpflanzte, ist dabei. Er befragt die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ihren Erlebnissen bei den Gesprächen: »Die Trauernden und wir kannten uns nicht. Wir sahen uns nicht, hörten nur unsere Stimmen. Das Wunder war: Wir fühlten uns ganz nah, wir fühlten Liebe.« Jemand fügt hinzu: »Wir dachten, es ginge vor allem um die Hinterbliebenen. Aber ein von ihnen geäußertes Detail, eine Brille, ein Schnurrbart, machte auch die Toten für uns lebendig.«

Wer hat schon öffentlich die Würdigung nachgeholt, für die in der Zeit der Pandemie kein Ort, keine Zeit eingeräumt wurden?

Nachdenklich und berührt gehe ich nach dieser Zusammenkunft ins Café nebenan, in dem sich traditionell das Theaterpublikum trifft und manche Schauspielerinnen und Schauspieler. Einen unpassenderen Namen in diesem sympathischen Viertel um die Place Gambetta kann man als Café nicht tragen: Café des Banques. Nichts hier hat auf den ersten Blick mit Finanzen zu tun. Die meisten reden von dem, was sie im Theater erlebt haben.

Rue Malte Brun: Das Theater La Colline mit zeitgenössischen Werken und Publikum jeden Alters, links das Café des Banques zum Austausch danach

Als das Café in den frühen Morgenstunden schließt, schlendere ich zu meinem Camper. Das Tor zum Friedhof Père Lachaise ist seit vielen Stunden verschlossen. In dem religionslosen, kirchenähnlichen Gebäude wurde zwanzig Jahre zuvor auch mein Vater bestattet. Er starb zu jung. Zum Glück auch zu jung, in der Würdelosigkeit der Pandemietode unterzugehen. Ich bin dankbar: Ich durfte bei ihm sein und erleben, wie schön sterben sein kann. Seitdem hat sich meine Sicht auf den Tod gewandelt. Ich ziehe die Decke über mich, erinnere die Trauerfeier: Ich hatte dort von dem Glück gesprochen, dabei gewesen zu sein und überrascht zu werden. Wenn man will, kann man alles wie ein Theaterstück sehen. Manchmal ist das ein guter Trick.

Die Gedenkfeier im Theater hätte meinem Vater gefallen. Dafür, dass eine Idee, die in einem Menschen entstanden ist und von einem anderen umgesetzt wurde, sich in den Himmel über Paris und in viele Seelen gestreut hat, dafür liebe ich diese Stadt. Ich gähne zufrieden. Hier ist möglich, was woanders nicht mal erdacht wird. Das fühlt sich nach Heimat an.

Père Lachaise I – Einsatz auf dem meistbesichtigten Friedhof der Welt

Père Lachaise I – Einsatz auf dem meistbesichtigten Friedhof der Welt

Ich gieße die Stifte am Grab von Tignous, Opfer des Attentats auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015

Ich sitze auf einer Bank an einer Kreuzung im Friedhof Père Lachaise, an einer Ecke steht ein Schild: Division 90. Ich überlege, warum die Einheiten, in die der Friedhof unterteilt ist, einen militärischen Begriff bemühen. Auf der Seite der Bundeswehr lese ich: „Die Division ist ein militärischer Großverband im Heer.“ Welchen Krieg müssen Tote ausfechten?

Eine Frau schwenkt einen papiernen Friedhofsplan und ruft ihrer Begleiterin und ihren Begleitern zu: „Wir sind jetzt in der einundvierzigsten! Wir können hier oder da lang gehen.“ Die andere Frau schwenkt den gleichen Plan, der Mann tippt etwas in sein Handy, dreht es um 90 Grad, schaut sich um, tippt wieder etwas ein, schwenkt den Kopf nach links. Zusammen gehen sie ein paar Meter hinunter. Ob analog oder digital, die richtige Strategie scheint noch nicht gefunden: Sie kommen mit flatternden Plänen wieder zurück.

Ich habe mich von Beginn an auf zufälliges Finden eingelassen, eben wie Zufall funktioniert: fällt sich zu. Sie suchen einen Menschen unter den 70 000, vereint im Jenseits, deren Überreste hier unter Grabsteinen liegen.

Schon Stunden wackelt das gestern auf der Theke einer in der Nähe des Friedhofs gelegenen Buchhandlung erblickte Buch des Friedhofsvorstehers des Père Lachaise, Benoît Gallot, in meiner Handtasche durch Löwenzahn, Gras, Efeu über Stein: La vie secrète d’un cimetière. Das geheime Leben eines Friedhofs. Vor dem Blick in dieses Buch war mir nie bewusst gewesen, dass der Père Lachaise, in dem ich in den letzten Jahrzehnten manchmal herumgestreunt bin, der größte und meistbesuchte Friedhof der Welt ist. So steht es dort jedenfalls.

Seit dem 1. August 2018 ist Benoît Gallot mit nur 36 Jahren Herr der Totenstadt geworden, und ihm war bange bei dem Gedanken, ob er auf der Höhe dieses historischen Ortes sein könnte. Er habe sofort die Bürde des mythischen Friedhofs empfunden, der das Prunkstück des tourisme funéraire sei, des Bestattungstourismus. Stimmt, zwischen denen, die sich im Notfall auf einen Friedhof begeben und jenen, die gerne dort herumstreunen, gibt es noch jene, die zwischen Eiffelturm und Louvre noch einen Friedhof mitnehmen. Gallots Sorge war, den Friedhof mit allen Facetten zu erfassen, um seinem Ruf gerecht zu werden, ihn würdig vertreten und bestmöglich leiten zu können.

70 000 Tote sind noch nicht genug. Weitere 26 000 sterbliche Überreste befinden sich in Urnen im Kolumbarium. Dieser Begriff, in dem colombe steckt, eine hübsche Form der Taube, bezeichnete tatsächlich einen Taubenschlag. Er besteht aus kleinen, in Hallen streng symmetrisch angeordneten Fächern, in denen eine oder mehrere Urnen Platz haben. Manche Familiengräber seien vor Generationen und à perpétuité, also auf ewig erstanden worden, schreibt Gallot. Haben die Vorfahren ein solches Grab erstanden, was man damals noch konnte, so haben die Nachkommen – sie sind auf der ganzen Welt verstreut – ein Anrecht auf ein Plätzchen in Paris.

Für jemanden, der sich zu Lebzeiten ein pied-à-terre, eine Bleibe, in der französischen Metropole wünscht und vorausschauende Ahnen hatte, ist der Platz in Paris ein attraktives Attribut zum Tod. Die Lebenden müssen dort für einen Quadratmeter Raum mindestens 10.000 Euro hinblättern, die Toten werden ganz in Ruhe in Pariser Erde gelegt.

Der Vorstellung von diesem Friedhof als ewig verschlafenem Ort widerspricht Gallot: Bestattung geschehe im Spiegel einer Epoche und würde sich unaufhörlich an die neuen Bedürfnisse anpassen, die die Lebenden ausdrückten. Diese Fähigkeit zur dauernden Neuerfindung seit seinem Bestehen habe dem Père Lachaise erlaubt, etliche Wandlungen zu durchleben, die ihm einen neuen Atem, eine neue Seele eingehaucht hätten, ohne seine Funktionen als vollwertigem Friedhof aufzugeben.

Etwa 3000 Tote finden sich im Jahr hier zusammen, 6000 werden inhumiert, bleiben aber nicht unbedingt dort, sondern werden nach der Zeremonie und der Übergabe der Urne an andere Stätten gebracht. Jährlich wird die Asche von 1300 Verstorbenen verstreut. Dafür sind die „Jardins du souvenir“ vorgesehen, seit 2013 wird deren Existenz in jedem Friedhof in Frankreich vorgeschrieben. Ich habe in der im Père Lachaise vorgesehenen Fläche die Asche in Linien ausgestreut gesehen, auf manchen liegen Blumen. Einige sind ganz frisch, manche verwelken bereits.

Wie Religion in unseren Gesellschaften an Bedeutung verloren habe, so habe sie es auch auf dem Friedhof, erzählt Gallot in seinem Buch. Die ehemals für Juden und Muslime vorgesehenen Felder sind nur noch historisch. Bei einem Spaziergang über den Friedhof wird sichtbar, dass alle miteinander liegen. Der Wandel der Bestattungssitten bringt es mit sich, dass heute die wesentlichen Aktivitäten und die nötige Ausstattung auf die Kremierung fallen: Am wichtigsten sind das Krematorium, das Kolumbarium und der Garten, in dem die Asche ausgestreut wird. Um sowohl diesen Bedarf zu befriedigen, als auch die historischen Grabkapellen zu bewahren, werden manche von ihnen zu Kolumbarien umrestauriert.

Gleich dem Ouroboros, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, schreibt Gallot, sei alles ein ewiger Neubeginn. Vielmehr, als das Erbe zu bewahren oder ein enzyklopädisches Wissen über die Verstorbenen zu erringen, ginge es darum, sich am Tod zu reiben, an den Verstorbenen aller Horizonte und an ihren trauernden Angehörigen. Über Särge zu sprechen, Asche, Exhumierung, Gruften, Recht auf Inhumierung und Grabsteine. Trauerzüge und Gedenkfeiern zu organisieren. Eine Einrichtung zu leiten, deren Nutzer Trauer eint. Eine Tätigkeit zu begleiten, die Angst hervorrufe, aber in seinen Augen eine der schönsten öffentlichen Dienstleistungen darstelle. »Ich bin nicht vom Tod besessen, ich sehe ihn kaum. Einen Friedhof verwalten, heißt vor allem, die Lebenden zu begleiten.«

Eine geführte Besichtigung ist im Anmarsch. Die Gruppe bleibt vor dem Grab von Georges Moustaki stehen. Der Friedhofsreiseleiter fragt: »Kennen Sie ihn?«. Er stimmt eins seiner Lieder an, keiner stimmt mit ein. »Er hat auch für Edith Piaf komponiert. Jetzt ist Moustaki bald zehn Jahre tot.« Er verweist auf ein Werbeschildchen, das vorne rechts im Grab steckt. »Bald wird im Olympia ein Gedenkkonzert stattfinden, vielleicht gehen Sie doch mal hin …«

Moustaki hat auch mit Barbara gesungen, fällt mir ein. Sie ist zwar im Ausland nicht so bekannt, aber in Frankreich und auch für Gérard Depardieu so bedeutend, dass dieser monatelang mit ihren Liedern aufgetreten ist, als sie schon längst verstorben war. Bei seinen Konzerten war fast so viel Prominenz wie auf dem Père Lachaise. Ich löse mich von der Gruppe und ziehe weiter, bin in Gedanken, und die erblickt man gerne am Boden, als wüchsen sie aus ihm empor. Als ich den Namen Tignous höre, bleibe ich stehen und gehe die paar Schritte zurück zum Grab aus schwarzem Mamor. Links oben sehe ich ein Foto von ihm. Er ist einer der Zeichner, die beim Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ermordet wurden.

»Sehen Sie den Topf dort? Die Menschen stecken da Stifte rein.«, sagt der Leiter lächelnd, der eben noch für Moustaki geworben hat. Der Hinweis findet keine Resonanz.

Die Blumentöpfe auf Tignous‘ Grab sind frisch, nur ein Töpfchen mit Rosen ist umgefallen, sehe ich erst, nachdem ich das Grab von allen Seiten fotografiert habe. Ein paar Meter weiter bedient ein Mädchen eine Wasserpumpe und hüpft davon. Ich greife nach dem vertrockneten, umgefallenen Rosentopf, gehe zur Wasserpumpe, wässere ihn.

»Pardon, Madame, wo geht’s hier bitte zum Krematorium?«, fragt mich eine gut gekleidete Dame. »Immer geradeaus, Sie können es nicht verfehlen.«, antworte ich. Ich als alter Friedhofshase? Ich stelle den Rosentopf zurück und schiele auf den mit den Stiften, die in seiner Erde stecken. Eine Familie mit zwei Töchtern kommt vorbei. Die Mutter bleibt stehen.

»Ach, Tignous!«, ruft sie aus. »Der ist von den Terroristen erschossen worden.«

»Gibt es hier Terroristen?«, fragt ihre Tochter.

»Wie?«, entgegnet die Mutter.

»Ich meine, hier auf dem Friedhof.«

»Nein… Nein nein! Mach dir keine Sorgen!«

Der Blick der Mutter begegnet meinem. Blitzartig entlarven wir gemeinsam den geschickt improvisierten mütterlichen Pfusch. Was wissen wir schon? Dann schlendert die Familie weiter Richtung Ausgang.

Ich schnappe mir den Topf mit den Stiften und gehe zur Wasserpumpe, betätige den Hebel und lasse Wasser in den Topf fließen. Passanten bleiben stehen, gucken erstaunt. Ich blicke unbeirrt auf den Wasserstrahl. Stifte zu gießen scheint mir weitaus weniger verrückt als die Ereignisse, die Tignous unter die Erde zwangen.

Ute ohne Plan

Ute ohne Plan

Früher die »Bibel«: Der alte Plan de Paris, mit allen Arrondissements auf einer Doppelseite, Übersichtsplan, Verzeichnis, Metroplan

Er ist alt, er ist speckig, er droht bei jedem Auseinandergefaltetwerden innerlich zu zerreißen. Und Paris droht in Kolonialmanier – also ungeachtet der achtzig quartiers und zwanzig arrondissements – in Rechtecke zerteilt zu werden, hier wären sie 8 x16 cm klein. Mein alter Plan von Paris, ein Büchlein mit alphabetischen Verzeichnissen aller Straßen, Theater, Ministerien, Kirchen, nach Religionen aufgeteilt, Metro- und Buslinien, einzeln aufgeführt, und Plänen der einzelnen Arrondissements. Dass der Übersichtsplan der Metro nach 35 Jahren immer noch an der Innenseite der vorderen Umschlagseite klebt!

Der Plan de Paris hat meine diversen Handtaschen und alles, was sie enthielten, jahrelang von innen gesehen. Meine verrotzten Papiertaschentücher, meine entkapselten Lippenstifte, die Fettmoleküle meiner von Tabakfilamenten durchzogenen Cremes, mit denen meine Finger eingeschmiert waren, als sie ihn, immer wieder, zu Rate zogen.

Eine Stadt, deren Bewohner einen Plan brauchen, ist eine Metropole. Eine Metropole enthält auch für ihre Bewohner jede Menge Unentdecktes. Zum einen, weil sie viel zu groß ist, erfasst zu werden, zum anderen, weil es in ihr wuselt. Die beste Möglichkeit, Paris zu entdecken, ist nicht herumzuirren. Vielmehr, sich an eine Caféterrasse zu setzen und die Flüchtigkeit der Umherirrenden zu betrachten.

Du nippst ganz ruhig an deinem vor Stunden bestellten, erkalteten Espresso, und um dich herum schwirrt das Leben als Collage Hunderter Leben. Jedes bewegt sich in eigener Dringlichkeit, immer muss jemand mindestens von A nach B, droht zu spät zu kommen: Zur Arbeit, zu einem freundschaftlichen Treffen, einer Vorlesung, einem Briefing, ins Kino, ins Theater, ins Konzert. In den Supermarkt, in die Metro, in eine Ausstellung, in den Kindergarten, in die Schule. Zum Arzt, zum Podologen, zum Friseur, in die Bäckerei, zum Traiteur, wo es Mitnehmspeisen gibt, die man keine Zeit oder Lust hat, selbst zuzubereiten.

Während sich deine Geschmacksknospen an einem Minischluck Espresso zusammenziehen, fährt, rennt, humpelt die Welt um dich herum. Jene, die stehen bleiben, sind oft Touristen. Die Schlenderer unterliegen zumeist einer amourös bedingten Verlangsamung. Der Rest von Paris als Mensch hastet. Früher manchmal auch mit dem Büchlein in der Hand, das Paris zusammenhielt.

Ich habe länger auf dem Land gelebt, in Deutschland. Meine Kinder haben sich jahrelang im Bauernhof nebenan von Strohbergen auf Heuballen gestürzt, kamen zerzaust wegen plötzlich auftretenden Hungers zurück. Sie tobten durch ihre Welt, und diese Welt streute Strohhalme über ihre Häupter. Sie waren in Kontakt.

Es ist schon lange her. Wir waren eine Weile nicht in Paris gewesen. Als meine Kinder dort wieder über die Bürgersteige hüpften, fiel mir eines auf: Sie bewegten sich ganz anders als Menschen aus Paris. So, als wäre die ganze Stadt ein Abenteuerspielplatz. Jeder Passant ein Hindernis, heiter bezwungen zu werden. Sie brachten ihre anarchische, die bestehende Ordnung übersehende Bewegungsart ein, wild und mit keinem Einwand zu zähmen. Längst gelassen im erzieherischen Kapitulationsmodus eingerichtet, guckte ich mir den Firlefanz der Bauernkinder aus akademischem Haushalt an, wie sie die halbwegs kontrollierten Gangarten der Pariser in Bedrängnis brachten, die die Metropole beschritten. Denn der Boden unter den Füßen flüstert Pariserinnen und Pariser zu, wie er begangen werden will. Meine Kinder bekamen nichts davon mit, ihre Fröhlichkeit war laut und blind.

Heute sind meine Kinder städtischer. Sie haben die Bauernzeit nicht vergessen. Sie wissen, wann Äpfel fallen und verrotten, sie kennen den Geruch der Fermentation, haben studiert und sind in der Lage, sich an einer Pariser Caféterrasse zu unterhalten, ohne dabei auf einen imaginären, bespringbaren Strohballen zu schielen. Fast könnte ich darüber erschrecken, wie sie sich von ihrem Übermut gelöst haben und in den gemäßigten Rhythmus von Zivilisation geglitten sind.

Wenn wir vom Süden Deutschlands aus eine Ewigkeit nach Paris fuhren, hörten wir zig mal: Die Route wird berechnet. Das sich ständig korrigierende Navigationsgerät war damals modern. Heute bleibt mir von den langen Fahrten nach Paris das liebliche Stimmchen meiner Tochter: Aber Mama, wer ist denn diese Ute?

Ich hätte am Hörvermögen meiner Tochter zweifeln können, tat es besorgenderweise nicht. Stattdessen zückte ich, im Westen von Paris angelangt, den alten Plan de Paris hervor. Auf der anderen Seite der Stadt Paris intra muros ist nämlich Groß-Paris zu sehen. Mit allen Schleichwegen, in die Ute sich damals nicht traute, weil sie in größte Verwirrung geriet. Ich lotste uns dann über verschiedene Uten zu unserem Zielpunkt. Ute blieb sprachlos zurück. Kurz vor der Place des Vosges faltete ich den Planspeck zusammen, dann im Restaurant »Ma Bourgogne« die weiße, perfekt gemangelte Stoffserviette über meinen Schenkeln auseinander, um mich über irgendwas mit hausgemachten Fritten herzumachen. Worauf sich, nach dem Mahl, unsere Kinder wild um den Platz bewegten, ohne auf Ute zu hören. Die blieb stumm und hungrig im Auto zurück.