Ute ohne Plan

Ute ohne Plan

Früher die »Bibel«: Der alte Plan de Paris, mit allen Arrondissements auf einer Doppelseite, Übersichtsplan, Verzeichnis, Metroplan

Er ist alt, er ist speckig, er droht bei jedem Auseinandergefaltetwerden innerlich zu zerreißen. Und Paris droht in Kolonialmanier – also ungeachtet der achtzig quartiers und zwanzig arrondissements – in Rechtecke zerteilt zu werden, hier wären sie 8 x16 cm klein. Mein alter Plan von Paris, ein Büchlein mit alphabetischen Verzeichnissen aller Straßen, Theater, Ministerien, Kirchen, nach Religionen aufgeteilt, Metro- und Buslinien, einzeln aufgeführt, und Plänen der einzelnen Arrondissements. Dass der Übersichtsplan der Metro nach 35 Jahren immer noch an der Innenseite der vorderen Umschlagseite klebt!

Der Plan de Paris hat meine diversen Handtaschen und alles, was sie enthielten, jahrelang von innen gesehen. Meine verrotzten Papiertaschentücher, meine entkapselten Lippenstifte, die Fettmoleküle meiner von Tabakfilamenten durchzogenen Cremes, mit denen meine Finger eingeschmiert waren, als sie ihn, immer wieder, zu Rate zogen.

Eine Stadt, deren Bewohner einen Plan brauchen, ist eine Metropole. Eine Metropole enthält auch für ihre Bewohner jede Menge Unentdecktes. Zum einen, weil sie viel zu groß ist, erfasst zu werden, zum anderen, weil es in ihr wuselt. Die beste Möglichkeit, Paris zu entdecken, ist nicht herumzuirren. Vielmehr, sich an eine Caféterrasse zu setzen und die Flüchtigkeit der Umherirrenden zu betrachten.

Du nippst ganz ruhig an deinem vor Stunden bestellten, erkalteten Espresso, und um dich herum schwirrt das Leben als Collage Hunderter Leben. Jedes bewegt sich in eigener Dringlichkeit, immer muss jemand mindestens von A nach B, droht zu spät zu kommen: Zur Arbeit, zu einem freundschaftlichen Treffen, einer Vorlesung, einem Briefing, ins Kino, ins Theater, ins Konzert. In den Supermarkt, in die Metro, in eine Ausstellung, in den Kindergarten, in die Schule. Zum Arzt, zum Podologen, zum Friseur, in die Bäckerei, zum Traiteur, wo es Mitnehmspeisen gibt, die man keine Zeit oder Lust hat, selbst zuzubereiten.

Während sich deine Geschmacksknospen an einem Minischluck Espresso zusammenziehen, fährt, rennt, humpelt die Welt um dich herum. Jene, die stehen bleiben, sind oft Touristen. Die Schlenderer unterliegen zumeist einer amourös bedingten Verlangsamung. Der Rest von Paris als Mensch hastet. Früher manchmal auch mit dem Büchlein in der Hand, das Paris zusammenhielt.

Ich habe länger auf dem Land gelebt, in Deutschland. Meine Kinder haben sich jahrelang im Bauernhof nebenan von Strohbergen auf Heuballen gestürzt, kamen zerzaust wegen plötzlich auftretenden Hungers zurück. Sie tobten durch ihre Welt, und diese Welt streute Strohhalme über ihre Häupter. Sie waren in Kontakt.

Es ist schon lange her. Wir waren eine Weile nicht in Paris gewesen. Als meine Kinder dort wieder über die Bürgersteige hüpften, fiel mir eines auf: Sie bewegten sich ganz anders als Menschen aus Paris. So, als wäre die ganze Stadt ein Abenteuerspielplatz. Jeder Passant ein Hindernis, heiter bezwungen zu werden. Sie brachten ihre anarchische, die bestehende Ordnung übersehende Bewegungsart ein, wild und mit keinem Einwand zu zähmen. Längst gelassen im erzieherischen Kapitulationsmodus eingerichtet, guckte ich mir den Firlefanz der Bauernkinder aus akademischem Haushalt an, wie sie die halbwegs kontrollierten Gangarten der Pariser in Bedrängnis brachten, die die Metropole beschritten. Denn der Boden unter den Füßen flüstert Pariserinnen und Pariser zu, wie er begangen werden will. Meine Kinder bekamen nichts davon mit, ihre Fröhlichkeit war laut und blind.

Heute sind meine Kinder städtischer. Sie haben die Bauernzeit nicht vergessen. Sie wissen, wann Äpfel fallen und verrotten, sie kennen den Geruch der Fermentation, haben studiert und sind in der Lage, sich an einer Pariser Caféterrasse zu unterhalten, ohne dabei auf einen imaginären, bespringbaren Strohballen zu schielen. Fast könnte ich darüber erschrecken, wie sie sich von ihrem Übermut gelöst haben und in den gemäßigten Rhythmus von Zivilisation geglitten sind.

Wenn wir vom Süden Deutschlands aus eine Ewigkeit nach Paris fuhren, hörten wir zig mal: Die Route wird berechnet. Das sich ständig korrigierende Navigationsgerät war damals modern. Heute bleibt mir von den langen Fahrten nach Paris das liebliche Stimmchen meiner Tochter: Aber Mama, wer ist denn diese Ute?

Ich hätte am Hörvermögen meiner Tochter zweifeln können, tat es besorgenderweise nicht. Stattdessen zückte ich, im Westen von Paris angelangt, den alten Plan de Paris hervor. Auf der anderen Seite der Stadt Paris intra muros ist nämlich Groß-Paris zu sehen. Mit allen Schleichwegen, in die Ute sich damals nicht traute, weil sie in größte Verwirrung geriet. Ich lotste uns dann über verschiedene Uten zu unserem Zielpunkt. Ute blieb sprachlos zurück. Kurz vor der Place des Vosges faltete ich den Planspeck zusammen, dann im Restaurant »Ma Bourgogne« die weiße, perfekt gemangelte Stoffserviette über meinen Schenkeln auseinander, um mich über irgendwas mit hausgemachten Fritten herzumachen. Worauf sich, nach dem Mahl, unsere Kinder wild um den Platz bewegten, ohne auf Ute zu hören. Die blieb stumm und hungrig im Auto zurück.