Action und Liebe. Für den Cineasten Claude Lelouch gilt das auch mit 87.

Action und Liebe. Für den Cineasten Claude Lelouch gilt das auch mit 87.

Claude Lelouch stellt seinen neuen Film Finalement vor. Der Cineast, der 1966 mit Un homme et une femme schlagartig berühmt wurde, findet: »Kino ist Leben in besser.« Und rast wie eh und je durchs Leben.

Claude Lelouch (links) und Hauptdarsteller Kad Merad (Mitte) bei der Vorpremiere ihres neuen Films »Finalement« in Houlgate

Houlgate, 21. Oktober/15. November 2024.

Warum stellt der Mann, der für seinen 1966 gedrehten Film Un homme et une femme mit 30 Jahren zwei Oscars, einen Golden Globe und Cannes‘ Goldene Palme empfing, seinen 51. Film ausgerechnet in Houlgate vor? Das ist ein Badeort an der normannischen Küste, der keine 2000 Einwohner zählt, aber ein eigenes Kino betreibt. In diesem wird sogar das Festival des Europäischen Films zelebriert, auf das ich durch ein Plakat aufmerksam wurde. Wenige Tage zuvor erwarb ich ein Ticket, da waren für den Live-Auftritt gerade 40 Plätze weggegangen. Bei der Vorpremiere allerdings sind alle 256 Plätze ausverkauft, der sympathische Kinobetreiber Sylvain de Cressac muss Besucherinnen und Besucher zurückweisen.

Kurz nachdem sie stürmisch beklatscht worden sind, beginnen Regisseur Claude Lelouch und sein Hauptdarsteller Kad Merad Anekdoten zu erzählen. Er habe noch nie einen Film mit Lelouch gedreht, habe Kad Merad Lelouchs Frau kommentiert, der Schriftstellerin Valérie Perrin, als sie zufällig im selben Zug beisammen saßen. Er würde aber sehr gerne Teil der Lelouch-Familie werden, mit der die treue Crew samt Darstellenden gemeint ist. Worauf die Dame ihren Mann anrief und ihm davon berichtete.

Der hatte ein fertiges Drehbuch und suchte noch nach dem Protagonisten. Als die Frage aufkam, tippte er sich an die Stirn. Natürlich! Lelouch ist bekannt für seine Spontanität, auch bei seinen Drehs. Er will, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht spielen, sondern einfach sind. »Im Leben spielt man Dinge nicht. Da gibt es nur einen Take.« Oft provoziert er die Situation. Es gibt zwar ein Drehbuch, aber auf den Moment überrascht er seine Crew. »Das ist magisch, weil sie keine Zeit haben, ins Spielen zu kommen.«, grinst er. »Ich mache Filme, wie andere Jazz spielen. Es gibt das Thema und das, was man daraus macht. Ich ertrage es nicht mehr, wenn Schauspieler spielen. Es ist paradox, aber ich verlange von meinen Darstellern, dass sie wieder zu Menschen werden. Dann geschehen kleine Wunder.«

Merad und Lelouch kamen also zusammen und touren jetzt gemeinsam durch Frankreich mit ihrer »musikalischen Fabel«. Sie verstehen sich blendend und witzeln vor dem Publikum. Das hat einen irren Spaß. Merad spielt im Film einen Anwalt, der seine Arbeit aufgeben muss, weil er unter einer frontotemporalen Demenz leidet, weswegen er den Menschen um sich herum alles sagt, wie er es denkt. Ohne Filter.

Das Cinéma du Casino in Houlgate in der Normandie

Hätte ich mich nicht gerade für zwei Monate in Houlgate eingemietet und mich aufgrund der angekündigten Präsenz des Filmemachers ins Kino des alten Casinos begeben, würden Sie diesen Artikel nicht lesen. Claude Lelouch ist eine Legende. Er macht einfach sein Ding. Un homme et une femme, ein Mann und eine Frau, mit der in diesem Jahr verstorbenen Anouk Aimée und dem leider auch von uns gegangenen Jean-Louis Trintignant, kennen Sie wahrscheinlich mindestens durch seine Melodie und den eingängigen Text Dabadabada. Googeln Sie mal.

Weil Lelouch seine Filmmusik immer vor dem Dreh aufnehmen lässt und es damals noch keinen Text gab, sagte er: »Singt einfach dabadabada, dann sehen wir weiter«. Als er die Aufnahmen hörte, fand er es großartig und beschloss: »Das ist der Text! Das nehmen wir!« Tatsächlich schwingt in der sich durch den Film ziehenden Melodie, die Francis Lai komponierte, dem »Engel«, dem Lelouch bis zu seinem Tod 2018 verbunden blieb, so viel französisches Lebensgefühl mit, dass sie noch immer auf der ganzen Welt gehört wird. Sie ist Feeling Frankreich! Womöglich ist es ihr zum großen Teil zu verdanken, dass der – nach Lelouchs eigenen Worten – amateurhaft und mit spärlichem Budget gedrehte Film ihm und den Schauspielenden zum Durchbruch verhalf.

Nun, beim Recherchieren, stoße ich nach und nach auf ein Leben voller Drive. Je älter man wird, umso interessierter blickt man auf Menschen, die mit über 80 noch immer ohne Rollator durch die Welt gehen. Auch wenn man in Frankreich und anderswo ohnehin selten auf sie stößt. Ich kenne sie vor allem aus Deutschland.

Lelouch knallt gerne Lebensweisheiten raus, die sich in den vielen online zu sehenden Interviews wiederholen. Aber der Formel1-Fan ruht sich nicht auf ihnen aus, sondern jagt, jederzeit seiner Endlichkeit bewusst, weiter durchs Leben. Und obwohl der Filmtitel Finalement auf ein Ende deutet, arbeitet er bereits an seinem 52. Film, erfahren wir bei der Vorpremiere.

Warum aber ist das kleine Houlgate Teil seiner Tournee? Der Kinoleiter sagt, Lelouch sei öfter als Zuschauer hier. Der Filmemacher besitzt auch ein Anwesen ein paar Kilometer entfernt und pendelt wöchentlich zwischen der normannischen Küste und Paris. In Villers-sur-Mer, nur ein paar Kilometer weiter, hat er seine ersten Schritte gemacht, weswegen letztes Jahr auch die Promenade nach ihm benannt wurde.

Als Sohn einer Französin aus der Normandie und eines jüdischen Algeriers am 30. Oktober 1937 in Paris geboren, ist Claude Lelouch in der Gegend verwurzelt. Überhaupt liebt er Frankreich. »In diesem Land durfte ich in völliger Freiheit meine Emotionen und das, was meinem Leben Sinn verleiht, über meine Filme mit einem Publikum teilen. Und außerdem wollen in Frankreich alle Chef sein, aber keiner will gehorchen.« Daraufhin lacht das Publikum mit ihm.

In seiner Kindheit stand dieser Lebensweg für Claude Lelouch auf dem Spiel. Die Eltern wurden von der Gestapo gesucht und brachten dem Fünfjährigen schützende Strategien bei. Zu Hause spielten sie Razzia. Er lernte, nach heftigem Klopfen an der Wohnungstür sofort in die dunkelste Ecke zu flüchten und sich auch dann nicht zu zeigen, wenn die Eltern dabei die Wohnung verließen. In seinem Gürtel hatten sie Geld versteckt und einen Zettel mit Adressen verschiedener Personen, die er im Ernstfall aufsuchen sollte. Sie hatten ihm beigebracht, gelassen an der Hand einer fremden Person zu gehen. Selbst Antisemitismus hatten sie ihm einzutrichtern versucht. Und katholische Gebete.

Jahrelang war die Familie in Gefahr. Zwei Jahre blieb der Vater in Algier. Die Mutter irrte kreuz und quer mit ihrem Sohn durch Frankreich. »Sobald wir ein Versteck erreicht hatten, mussten wir schon wieder fliehen.«, berichtet Lelouch. War das der Vorläufer zur Rastlosigkeit, mit der der heutige Vater von sieben Kindern und acht Enkeln von fünf Frauen durchs Leben zischt?

Alles, was er gedreht habe, habe mit Menschen aus seinem Leben zu tun, sagt er. In dem Film Les uns et les autres, wörtlich: die Einen und die Anderen, wird eine Szene aus seinem Leben nachgespielt. Den offiziellen deutschen Filmtitel Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen… scheint sich der Gestapomann ausgedacht zu haben, der plötzlich im Klassenzimmer steht und zur Lehrerin sagt: »Wären Sie so liebenswürdig, ihre Schüler zu bitten, ihre Hosen herunterzulassen.« Der Nazi geht, die behandschuhten Hände, aus denen ein dünner Stock ragt, im Rücken verschränkt, durch den Mittelgang und guckt links und rechts durch die Reihen. Natürlich setzt er sich vor den Jungen ganz hinten, der den Kopf gesenkt hielt, blickt ihm in die Augen. »Wie heißt du?« »Duvivier, Jean-François.« Der Gestapomann blickt nach unten Richtung Hose, die man nicht sieht, hebt den Blick wieder in die Augen des Jungen. »Du bist sicher, dass du Jean-François Duvivier heißt?« »Ja, Herr Offizier.«

Die Lehrerin stellt sich hinter den Jungen, legt ihre Hände auf seine Schultern: »Bei ihm ist es ganz einfach. Er pinkelte schräg, als er klein war, also hat er sich operieren lassen.« Dann sagt sie zum Jungen: »Sag doch dem Herrn Offizier dein Gebet auf, um ihn zu beruhigen.« Notre père qui êtes aux cieux … Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, Dein Reich … Der Herr Offizier blickt die Lehrerin in diesen Sekunden eingehend an. Steht mit einem »Merci, Madame« schon beim dritten Satz auf, stürmt aus dem Raum, während das Gebet weiter rezitiert wird, und knallt die Tür zu. Die Lehrerin nickt dem Jungen zu und lächelt: »Na, hatte ich nicht recht, dir das beizubringen?«

»Diese Lehrerin war genial«, sagt Lelouch rund achtzig Jahre später. Als weitere Schutzmaßnahme versteckte Lelouchs Mutter ihren Sohn im Kino. Schon mit fünf oder sechs Jahren schaute er sich dreimal täglich den selben Film an, sie liefen damals in Dauerschleife. Er versuchte, hinter der Leinwand die Menschen zu finden, die vorne spielten, und fand sie nicht. »Das Kino hat mir das Leben gerettet. Man verhaftete Juden nicht im Kino.«

Schon sein ganzes Leben ist Lelouch »on the run«. In einem der zahlreichen Interviews sagt er: »Heute noch bin ich traumatisiert. Ich habe ein Problem mit den Deutschen. Wenn ich Deutsch sprechen höre, fühle ich mich nicht in Sicherheit. Ich war nie beim Filmfestival in Berlin. Ich habe Angst, nach Deutschland zu gehen.« Das geht mir nah. Als Kind eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter trage ich ein Leben lang einen Zwiespalt in mir, der sich nicht auflöst.

Woher diese Lebensenergie kommt, und dass Lelouch seine Filme gerne positiv enden lässt? »Alles, was kein Krieg ist, ist Glück. Seit 1944/45 habe ich das Gefühl, dass alles, was ich lebe, ein Extra ist, weil wir eigentlich dran gewesen wären.« Letztes Jahr hat er zum vierten Mal geheiratet.

Sein meistgesehener Film heißt C’était un rendez-vous und dauert knapp neun Minuten. In einer einzigen Sequenz rast Claude Lelouch persönlich mit am Auto befestigter Kamera in den frühen Morgenstunden des 15. August 1976 duch Paris. Ohne Schnitt, ohne Special Effects und ohne Genehmigung. Dafür mit 18 überfahrenen Ampeln, etlichen Beinahe-Unfällen und den Behörden am Hals. »Wir hatten vom letzten Dreh diese Filmrolle übrig, die wollte ich nicht vergeuden.«

Ja, Lelouch liebt auch das Auto. »Darin kommen mir die meisten Filmideen.« Und die Geschwindigkeit. Ich verrate Ihnen vom Ende des Kurzfilms, den Sie online sehen können, nur, dass es mit diesen Feststellungen zu tun hat: »L’action et l’amour, die Tat und die Liebe, das sind die beiden Dinge, an die ich im Leben ganz fest glaube. Alles, was man sich im Leben abverlangt, geschieht darum: Lieben und geliebt werden. Der Rest sind Trostpreise.«

Und was sagt Kad Merad über die Arbeit mit Lelouch fast 50 Jahre danach? »Es ist einzigartig, die größte Freude. Man ist nicht im Filmset, sondern im echten Leben. Es gibt keine Kamera mehr. Claude hat mich einfach ins Festival von Avignon gepflanzt und mich gebeten, Leuten auf der Straße Blumen zu schenken. Niemand wusste, dass das ein Film war.«

Was bleibt von diesem Film, der eine Art Bilanz ist, will ein Interviewer von Claude Lelouch wissen. »La vie est une course d’emmerdements au pays der merveilles. Das Leben ist ein Wettrennen von Nervereien im Wunderland. Die Wunder sind stärker als die Ärgernisse. Mit diesen Wundern muss man spielen. Wenn sie ein bißchen überwiegen, beginnt Glück. Wenn sie weniger sind, beginnt die Nerverei.«

Am Ende des Films blickt mich von rechts die mir unbekannte Sitznachbarin an, die alleine gekommen ist: Ach, war das nicht wunderbar? Links höre ich eine Freundin zur anderen ohne große Begeisterung sagen: Na ja, war halt wieder ein typischer Lelouch!

Als ich das Kino am Atlantik verlasse, ist das Meer vor mir erheblich gestiegen. Auch das gibt ein Gefühl für Vergänglichkeit. Finalement, denke ich, während ich am Saum zwischen Wasser und Sand laufe, verwirklicht dieser Mann sein Leben lang schon, was ihm am Herzen liegt. Mit eigenen Mitteln, völlig frei. Egal, was die einen und die anderen sagen. Und ist damit, finalement, noch nicht fertig.

Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Thomas Dutronc bei der Trauerzeremonie für seine Mutter Françoise Hardy im Friedhof Père Lachaise. Links sitzen Brigitte Macron, Expräsident Sarkozy und Carla Bruni

Paris am 20. Juni 2024. Im Gegensatz zu Françoise Hardys Lied Jamais synchrones, Nie synchron, also nie gleichzeitig, das ihre Beziehung betraf, herrscht eine seltsame Synchronizität im Juni 2024: Vor kurzem hat Emmanuel Macron die Zukunft Frankreichs auf einen Spieltisch geknallt. Monsieur le Président löst nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Europawahlen mit überwältigendem Erfolg für Marine Le Pens Rassemblement National die Assemblée Nationale auf. Frankreich steht unter Schock.

Zwei Tage später, am 11. Juni 2024, postet Thomas Dutronc drei Worte über Instagram, geschmückt von roten Herzen:

Maman est partie. Mama ist von uns gegangen.

Maman, das ist Françoise Hardy. Eine intime Nachricht. Als hätten wir im engsten Kreis auf einer Sitzbank vor ihrem Zimmer darauf gewartet, dass ihr Sohn die Tür öffnet, leise wieder schließt und uns Bescheid gibt. Wir, das ist seine Familie, zu der ich nicht gehöre, aber gerade ist ganz Frankreich seine Familie, dann bin auch ich Teil von ihr.

Diese Nachricht landet mitten in der Aufregung, die uns in Frankreich erfasst hat. Wenn wir an Françoise Hardy denken, denken wir an ihre Stimme von rarer Sanftheit, die für so viele in Frankreich Erinnerungen an Momente weckt, in denen ihre Worte unseren Herzschmerz linderten. Ihre Lieder waren nie politisch, und auch darum verwirrt ihre Tonalität und kommt sie gerade recht. Sie hat mit all dem nichts zu tun, und ich wünschte, ihre warme, private Stimme würde sich über den Wahnsinn legen und alle beruhigen.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Das Leben besteht aus Teilen ohne Verbindung. Das ist der Satz, den Françoise Hardy und Alain Delon in ihrem Duett Modern Style wiederholen. Aber heute, am Tag der Bestattungszeremonie von Françoise Hardy auf dem Friedhof Père Lachaise, finden Teile zusammen, die sonst nicht zusammenfinden.

Um kurz vor 13 Uhr treffen meine Tochter und ich uns an der Metrostation Gambetta. Sie muss Homeoffice machen, wir gehen dafür in ein Café. Wir kommen an einer Mauer mit einem neuen Graffiti vorbei: Front populaire steht in rot gesprüht, darunter ein Smiley. Front populaire ist der in den letzten Tagen in der Not entstandene Zusammenschluß linker Parteien, von denen nicht alle zusammenpassen. Vor allem der gerissene Demagoge Mélenchon, Kopf der Partei La France Insoumise, Unbeugsames Frankreich, als Antisemit verschrieen, kein Freund der EU und auch keiner von Deutschland, ist vielen nicht geheuer und schadet dem linken Zusammenschluss. Es geht, mal wieder, um die Rettung vor Rechtsextremisten, die wegen noch extremerer Ansichten in der Parteilandschaft Frankreichs nun Rechtspopulisten genannt werden, und diesmal mehr denn je um die Rettung der Demokratie. Was in Frankreich geschieht, betrifft ganz Europa. Frankreich ist sauer auf Macrons Zockerei.

Vorhin ist meine Tochter mit dem Zug angekommen, mein Sohn wird Stunden später anreisen. Am Abend wollen wir ins Restaurant Casanova in Vitry-sur-Seine gehen, gleich unter Paris, das meine Schwester und mein Schwager 13 Jahre lang betrieben haben und jetzt verkaufen. Für diesen Abschied, den wir als Vorwand für eine Zusammenkunft erfunden haben, finden wir uns in Paris ein.

Kurz vor 15 Uhr kündige ich an: »Ich gehe jetzt zur Bestattungsfeier von Françoise Hardy«. Hunderte von Fans, die Françoise Hardy die letzte Ehre erweisen wollen, haben sich bis auf die Terrassen des Kolumbariums links und rechts des Krematoriumgebäudes aufgestellt. Nach und nach trudeln die Celebrities ein. Thomas Dutronc und sein Vater, der Sänger und Schauspieler Jacques Dutronc, Françoise Hardys große Liebe, sind bereits drin. Sie lebten schon lange getrennt, telefonierten aber noch jeden Tag miteinander. In Monticello auf Korsika, wo ihr Haus steht, soll die Urne beigesetzt werden.

Am Krematorium-Kolumbarium des Friedhofs Père Lachaise verabschieden sich Fans von Françoise Hardy

Es erscheinen Nicolas Sarkozy und seine Ehefrau, die Sängerin Carla Bruni, bald auch Brigitte Macron ohne ihren Mann. Es ist besser so. Von einigen wird sie stellvertretend für ihn ausgebuht, von anderen beklatscht. Wenn er kein Chaos angerichtet hätte, wäre wahrscheinlich auch er dabei, wie bei jedem Verlust eines französischen Superstars, letztes Jahr noch für Jane Birkin. Dann kommt der Sänger Etienne Daho, der fast Familienmitglied geworden und auch in Françoise Hardys letzten Stunden anwesend war. Und schließlich viele Stars, die im Ausland weniger bekannt sind, aber auch Adamo und der Regisseur François Ozon.

Meine Tochter kommt nach. Noch stehen wir draußen auf dem linken Flügel des Kolumbariums. Von dort aus sehen wir einen Seiteneingang ins Krematorium, das aber ein ganzes Gebäude ist, wie eine riesige Friedhofskapelle, für alle und keine Religionen gleichermaßen geeignet und genutzt. »Kann man eigentlich nur auf Einladung da rein?« fragt sich ein Mann im Selbstgespräch. Ich nehme seinen Gedanken auf.

Mutter und Tochter betreten den erspähten Seiteneingang. Wir gehen eine Treppe hoch, die zu einer geschlossenen Tür führt. Dann eben wieder runter, dort tritt meine Tochter in einen Aufzug, ich folge ihr. Sie drückt auf -1. Auf -1 öffnet sich die Tür. Eine Frau auf der Treppe gegenüber fragt: »Wo wollen Sie hin?« Schon schließt sich die Tür, wir fahren in den ersten Stock. Dort fragt eine Frau: »Kommen Sie für Françoise?« Wir sagen ja, weil es wahr ist, und treten ein.

Wir befinden uns im Raum der Zeremonie im engen Kreis und schleichen uns ganz nach hinten an eine Säule. In der vordersten Reihe links sitzen die eben aus der Ferne Wahrgenommenen: Brigitte Macron unter ihrem blonden Haarhelm, an ihrer Seite wedelt die markante Nase von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy neben den langen Haaren von Carla Bruni. In der ersten Reihe rechts vom Mittelgang sitzen ein uns Unbekannter neben Jacques Dutronc, seinem Sohn Thomas und Etienne Daho. Den ersten Platz der zweiten Reihe belegt der Fotograf Jean-Marie Périer, Françoise Hardys erster Liebespartner. Dieser lebenslange Freund hat ihr in alle möglichen Karrieren geholfen und wohl die meisten schönen Fotos von ihr in den ersten Jahren ihrer Berühmtheit gemacht. Er ist auch in einer Doku über sie zu sehen, die aus Anlaß ihres achtzigsten Geburtstags seit Monaten auf Arte läuft.

Wir sind jetzt Teil des intimen Kreises.

Ich kenne dieses Gebäude, ich kenne die Kanzel rechts. Von der aus habe ich zum Tod meines Vaters eine Rede voller Hoffnung gehalten, weil sein Sterben so geschmeidig verlief. Das wollte ich damals zum Trost der anwesenden Trauernden mitteilen. Heute wird keine Rede gehalten. Wir hören Françoise Hardys Stimme aus einem Interview. Dann erhebt sich ihr Sohn und sagt, es gebe technische Probleme, das Band liefe zu schnell ab. Das war schon damals so, als es um meinen Vater ging. Thomas Dutronc geht zum Technikpult rechts und wieder zurück, wendet sich an uns Teilnehmende, ob alles nochmal abgespielt werden soll, in der richtigen Geschwindigkeit. Keiner antwortet. Als Françoise Hardys Sarg die Stufen hoch getragen wird, ertönt ihr Lied Message Personnel. Ihre eigene Stimme begleitet sie, die lebendige Françoise steht der verstorbenen bei.

Der Zeremonieraum des Krematoriums Père Lachaise nach der Trauerfeier für Françoise Hardy

Ich erinnere mich. Es ist mehr als 30 Jahre her. Ich unterhielt von Paris aus mit einem Mann eine intensive Beziehung, die auf der Kippe stand. Ich half mir mit dem, was ich hatte. Ich nahm eine Kassette auf und schickte sie zu ihm nach Deutschland. Das erste Lied war Message Personnel, es beginnt so:

Au bout du téléphone, il y a votre voix
Et il y a les mots que je ne dirai pas
Tous ces mots qui font peur quand ils ne font pas rire
Qui sont dans trop de films, de chansons et de livres
Je voudrais vous les dire
Et je voudrais les vivre
Je ne le ferai pas
Je veux, je ne peux pas

Am Ende der Telefonleitung ist Ihre Stimme
Und die Worte, die ich nicht aussprechen werde
All diese Worte, die Angst machen, wenn sie nicht zum Lachen bringen
Die in zu vielen Filmen sind, in Liedern und Büchern
Ich möchte sie Ihnen sagen
Und ich möchte sie leben
Ich werde es nicht tun
Ich will es, ich kann es nicht

Und ja, diese Kassette, vor allem dieses erste Lied, in dem Françoise Hardy ausdrückte, was ich fühlte und mich nicht traute zu sagen, und wovon sie sang, sie traue es sich auch nicht, trug dazu bei, dass wir wieder zusammenkamen. Mein späterer Mann sagte dazu: Das ist gemein! Er unterlag – gerne – dem Zauber, aus dem heraus viel später zwei Kinder geboren wurden.

Ich höre dieses Lied in diesem Ort, sehe den Sarg und weiß um den Menschen darin. Ich blicke meine Tochter an, die neben mir steht. Es kann sein, dass diese Tochter und dieser Sohn, der nachher kommt, wenn all das vorbei ist, nie existiert hätten, wenn Françoise Hardy dieses Lied nicht gesungen hätte.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Ja. Aber manchmal kommen diese Teile doch zusammen, und manche werden ganz lebendig, werden Menschen und tragen einen Vornamen. Und einen Nachnamen, der auch meiner ist. Und stehen jetzt neben mir, oder kommen nachher mit dem Zug an. Und das ist mein message personnel an Françoise Hardy: Françoise, Sie können vermutlich was dafür. Merci. So viel merci wie nie.