Je suis Charlie. Und was Charlie’s Tante zu berichten hat.

Je suis Charlie. Und was Charlie’s Tante zu berichten hat.

Der Zeichner Cabu von Charlie Hebdo von meinem Neffen Charlie gezeichnet, als er gerade 8 Jahre alt war

Heute vor zehn Jahren veränderte sich besonders für Frankreich die Welt, in der viele leben wollen. Ich möchte hier über einen privaten Zufall berichten, bei dem sich zwei Charlies trafen, die sich nicht kannten und doch miteinander zu tun haben. Et puis te souhaiter BON ANNIVERSAIRE, CHARLIE !

Vor genau 10 Jahren bekam ich einen Anruf von meiner Schwester. Sie war in Paris, ich gerade in Düsseldorf. »Weißt du es schon?«

Aus ihren geschluchzten Fetzen setzte sich in mir allmählich das Grauen zusammen: Der Anschlag islamistischer Terroristen auf die Zeitschrift Charlie Hebdo. Auf einmal waren sie tot. Während einer Redaktionskonferenz. Die Zeichner Cabu, Wolinski, Charb, Honoré, Tignous. Einige von ihnen waren über ihre Arbeiten für Charlie Hebdo hinaus berühmt. Sechs weitere Menschen wurden ermordet, ein Polizist draußen. Das waren die Morde vom 7. Januar 2015. Weitere folgten.

Während meine Schwester sich in Tränen durch ihren Bericht kämpfte, erschienen mir die Reihen von bunten Ausgaben, die mein Vater im ersten Stock eines Landhauses mitsamt dem Vorläufer Hara Kiri griffbereit gehütet hatte. Es war einer der seltenen Momente, in denen ich froh war, dass er nicht mehr lebte.

Die nächsten Tage verfolgte ich vom Bett aus trauerbetäubt die Bilder aus aller Welt. Obwohl im Ausland die Zeitschrift kaum einer kannte, brach quer über unseren Planeten eine überwältigende Solidarität aus, die man sich für heute wünschen würde: Plötzlich, am nächsten Tag, zeigten alle, dass sie Charlie waren. Es stand auf ihren Schildern geschrieben. Je suis Charlie. Ich bin Charlie.

Charlie heißt auch mein Neffe. Er hat am 8. Januar Geburtstag. Vor zehn Jahren wurde er am Folgetag des Attentats acht Jahre alt. Und, sehen wir es mal von den Augen dieses Jungen aus, der lesen konnte und dem die Bilder mit dem hochgestreckten Spruch Je suis Charlie nicht entgingen: Was? Alle sind ich?!

Millionen von Menschen behaupteten, er zu sein!

Was denkt mein Neffe Charlie heute darüber, was weiß er noch? Morgen wird er 18. Das ist ein bedeutender Geburtstag. Letzte Woche noch waren wir zusammen in Paris. Ich rufe ihn an und frage ihn.

Charlie: »Ich war irgendwie erstaunt. Wow. Überall stand mein Name!«

Ich: »Ich habe eine alte Mail an einen Freund gefunden, dem ich verständlich machen wollte, dass es nicht irgendeins von diesen schrecklichen Attentaten war. Dass etwas Fundamentales, Historisches vor sich ging, etwas mit einem Davor und einem Danach. Menschen wurden für ihre Zeichnungen umgebracht! Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Deine Mutter hatte mir erzählt, dass Ihr in der Klasse über das Attentat gesprochen habt. Und dass ein Mitschüler ausgerufen hatte: Aber Charlie, du bist doch tot!«

Charlie schweigt und lacht dann. »Verrückt!« Auch wenn mir dabei etwas quersitzt, lache ich mit. Charlie Hebdo würde sich über diesen Irrsinn freuen.

Ich: »Deine Lehrerin soll – ich weiß nicht, ob daraufhin oder überhaupt – in Tränen ausgebrochen sein!«

Charlie denkt kurz nach. »Ich erinnere mich nicht daran.«

Ich: »Bist du denn sicher, dass du das, was du jetzt sagst, damals so empfunden hast? Oder setzt sich das im Nachhinein in dir zusammen?«

Charlie: »So ganz sicher bin ich nicht.«

Ich: »Hey, was wünschst du dir zum Geburtstag?«

Charlie wünscht sich eine Jacke, die er online auf der Secondhandplattform Vinted gesehen hat. Reden wir nicht über die Ästhetik. Ich freue mich darüber, dass er sie bald anziehen kann. Ein Stück Stoff, mit dem er sich jetzt gerne umgibt und das ihn schützt. Und ich freue mich sehr darauf, meinem lebendigen Neffen morgen zum 18. Geburtstag zu gratulieren und ihn nächste Woche in Paris wiederzusehen.

PS: In den Tagen nach dem Attentat zeichnete mein Neffe Charlie als gerade Achtjähriger spontan viele Portraits von der Zeichnerlegende Cabu. Das Bild zu diesem Beitrag ist eines davon. Schon damals hatte er den Blick für das, was wir heute noch immer brauchen.

Dieser Beitrag ist auch online in der Samstagsbeilage Zout op Zaterdag der niederländischen Kulturzeitschrift Zoutmagazine erschienen: https://www.zoutmagazine.eu/je-suis-charlie-en-wat-charlies-tante-te-zeggen-heeft/