Nur Stunden nach dem Ausgang der Europawahl am 9. Juni 2024 zugunsten der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National hat der französische Präsident Emmanuel Macron entschieden, die Assemblée Nationale aufzulösen, die Nationalversammlung. Sie bildet mit dem Sénat das französische Parlament. Wie ist die Stimmung vor den Neuwahlen bei den Menschen in Paris?
23. Juni 24. Heute ist endlich der Sommer ausgebrochen, es sind 27 Grad. In den letzten Tagen habe ich pausenlos Familie, Freundinnen und Freunde gesehen, zwischen ihren Lachern tiefes Stirnrunzeln, sobald es um Politik ging. Der Schock von Macrons Pokerspiel sitzt noch tief. Eben saßen wir noch in einem Café an der Seine auf der Ile de la Cité voller Touristinnen und Touristen. Bis zur nächsten Verabredung bleiben ein paar Stunden Zeit. Wasser wäre jetzt gut. Zum Trinken und zum Draufschauen.
Ja, Wasser und Vakuum. Der Canal Saint Martin ist nicht weit. Nach der Brücke bei der Haltestelle Jaurès entdecke ich die Übernachtungsvariationen im öffentlichen Raum. Hier eine Matratze mit Decke unter offenem Himmel, ein bißchen weiter ein paar Zelte. Ist man weniger obdachlos, wenn man unter einer Kunststoffplane lebt und diese an urbanem Mobiliar festgeknotet ist?
Darunter, am Ufer, ein kleiner Fuhrpark der Propreté de Paris, die städtische Müllabfuhr, mit Variationen an Fahrzeugen für verschiedene Methoden der Abfallbeseitigung.
Mein Ziel ist der vorhin von der Brücke erspähte Rooftop der Usines Ephémères mit Sonnenschirmen am Quai de Valmy auf der anderen Seite des Kanals. Rooftops sind hier Bars auf einem Dach, und die sind jetzt angesagt. Also rüber über die Schleusenbrücke auf die schmale Uferseite. Ein Mann sitzt direkt am Wasser vor Zelten, die sich um Pappeln gruppieren. Ich sehe von oben, wie er ins Wasser schaut, wir bilden eine Blickkaskade. Jäh steht er auf, holt aus der Außentasche eines Zeltes ein rotes Notizbuch heraus und kritzelt wie besessen hinein. Genau das will ich doch auch, also, aufi aufi! Bilder einsaugen und loswerden. Alles, was ich sehe, wird in dieser besonderen Situation zur Metapher. Jetzt taucht ein Hund mit Kopfhörern an der Leine einer Frau auf. Für einen Moment die Welt nicht hören. Le veinard! Der Glückspilz!
Dann bleibe ich erstaunt über die roofless Wohninstallation stehen, die eine stylische städtische Toiletteneinrichtung in ihr Areal eingeschlossen hat. Vorne an der Absperrung hängt die Wäsche, daneben ein Gebetsteppich und eine Flasche Desinfektionsmittel. Perfekt organisiert.
Im Gebäude unter dem Rooftop finde ich eine kleine Tür, auf dem Schild daneben steht Point éphémère. Soviel wie »vorübergehender Halt« oder »Zwischenstation«. Genau da befindet sich Frankreich, und mit ihm Europa, das dorthin schaut. Seit zwanzig Jahren findet im Point éphémère alternative Kultur in allen Formen statt, doch ich bin hier zum ersten Mal. Zunächst gehe ich um das Gebäude herum, an die Terrasse der Bar im Erdgeschoss mit Grolsch-Plastikbechern und vielen jungen Leuten, dann locken mich Stimmen hinein. Auf einer Minibühne wird jemand interviewt, männlich bis divers, nennen wir diese Erscheinung Angel, denn auf ihrem ärmel- und bauchfreien Top steht: angel energy. Angel schüttelt seine langen, mit zwei Klämmerchen zurückgehaltenen Haare und erzählt gestenreich davon, was seine Dragmother in ihm bewirkt hat.
»Kannst du uns kurz erklären, was eine Dragmother ist?« fragt die Moderatorin und lächelt zur zehnköpfigen Zuschauergruppe auf den Bierbänken. »Im Wesentlichen ist sie eine Dragqueen, die einen unter die Fittiche nimmt und in ihre Welt einführt.« In diese Welt scheinen seine perfekt manikürten langen Finger mit zartrosa Nagellack zu weisen. Irgendwo, wo Engel sind. Also zu einem ganz anderen Ort als dem des Rassemblement National von Marine Le Pen, zu Planet Bubble ohne Politik.
Ich mache mich davon, greife im Vorbeigehen nach einem Flyer des gerade entstandenen Linksbündnisses Front Populaire und finde hinter der diskreten Tür von vorhin endlich die Treppe zum Dach. Es ist mit Kunstrasen ausgelegt und voller chilliger Leute im Gespräch auf Hockern, Bänken und Liegestühlen.
Ich weiß, dass das, was ich heute schreibe, in zwei Wochen hinfällig sein wird. Genau deswegen will ich es festhalten. Auf dem Flyer steht: Il ne nous reste plus que quelques jours pour écrire l’histoire de notre pays. Uns bleiben nur noch wenige Tage, die Geschichte unseres Landes zu schreiben. In einer Woche finden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt, dem Unterhaus des französischen Parlaments. Sieben Tage später der zweite Durchgang. Geht es nach den Umfragen, wird sich die extreme Rechte durchsetzen, also von den extremen Rechten die angeblich etwas weniger extremen Rechtspopulisten, seitdem es Eric Zemmour und seine Partei Reconquête gibt, »Rückeroberung«. Dieses Dach unter den Füßen, das leuchtende Orange in manchen Gläsern auf Unschuldhimmelblau erzählen von einer anderen Rückeroberung: Chillen im Vakuum.
Nachher wird im Rahmen der Fußballeuropameisterschaft Deutschland gegen die Schweiz spielen. Davon, und wie die Franzosen sich bald auf dem Spielfeld schlagen werden, handelt das Gespräch am Nachbartisch unter den drei Männern in ihren Dreißigern. Werden sie wählen gehen? Oder abwarten und Spritz trinken?
Der Tag ist viel zu schön für besorgte Blicke in die Zukunft, dennoch frage ich die drei Männer am Nachbartisch, ob die Wahlen für sie ein Thema sind. Ja, sie werden wählen gehen, wahrscheinlich blanc, das ist die Farbe Weiß, also niemanden. In Deutschland wählt man mit einem Kreuz, in Frankreich schiebt man das Zettelchen seiner favorisierten Partei in einen Umschlag. Oder eben keins, wenn man blanc wählt. Bis heute wird eine solche Proteststimme nicht mitgezählt. Meine Großmutter tat das gerne und kommentierte es, aber ich war damals zu jung zu begreifen, was ihre Entscheidung zur Folge hatte. Oder zur Folgenlosigkeit.
»Was erhoffen Sie sich davon, wenn Sie eine ungültige Stimme abgeben und Anderen die Verantwortung überlassen?« möchte ich wissen. »Sind Sie sicher, dass sie nicht zählt?« fragt einer. Aber sein Kumpel weiß das schon und bemerkt hinterher: »Wir sind sowieso nicht relevant für Paris, wir wählen woanders.« Der unglücksselige Abstand zur Hauptstadt, da ist er wieder.
»Es betrifft doch das ganze Land«, werfe ich ein, »wohin wünschen Sie sich denn, dass es geht?« Alle drei studieren die Tischplatte, einer nimmt einen Schluck Spritz, der andere keinen und schluckt trotzdem. »Tja, wir stecken zwischen zwei Extremen und finden uns in keinem wieder!« Die anderen nicken. Mit dem linken Extrem meint er den Kommunisten Mélenchon, der der gemäßigten Linke ein Dorn im Auge ist. Ich erwähnte ihn schon in dem Beitrag Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy.
»Also werden Sie sich nicht positionieren?«, hake ich nach. »Doch, schon«, sagt der, der eben noch blanc wählen wollte. »Aber wir wollen nicht darüber reden. Wählen ist eine private Angelegenheit.«
Diese Verschlossenheit ist mir neu in Paris. Bisher war es so, dass die Wählenden frei heraus sagten, wo sie stehen. Sie sind in Paris vielfach links der Mitte vertreten. Die Wähler von rechts außen sind vielleicht weniger redselig. Oder ich kenne sie noch nicht. Was verschweigen die Schweigenden? In gut zwei Wochen werden wir wissen, welche Aussage die Wahlurnen daraus ziehen werden.
Also doch abwarten und Spritz trinken. Und über die neuesten Tipps für Macron schmunzeln, die auf Aufklebern in den Straßen der capitale zu sehen sind: »Geh und mach deine Kunsttherapie – Iss deinen Pimmel – Absetzung!«. Aber wann ist Macron schon auf den Straßen in Paris und liest, wie er seine Zukunft gestalten soll?