Die Olympiade in Paris ist beendet. Wie weit reicht das Pariser Glück?
12. August 2024. Gestern hat der neue französische Superheld Léon Marchand, 22 Jahre jung, vier Goldmedaillen und eine aus Bronze um den Hals, die Flamme der Olympischen Spiele 2024 in dem Bergwerkerlämpchen ausgeblasen. Ich habe es in der Übertragung der Abschlusszeremonie auf dem Bildschirm in den Arènes de Lutèce in der rue Monge gesehen. Die aus den Zeiten der Römerinnen und Römer (ja, Frauen gab es schon damals) stammende Arena von Lutetia, wie Paris in seinen Anfängen hieß, Leserinnen und Leser von Asterix wissen das. Die Arena ist hinter einer Tür versteckt und derzeit Zone für Public Viewing im 5. Arrondissement. Ich wohnte früher zwei Ecken weiter.
Sie ist also vorbei, die Olympiade. Die Sicht hier war mittelmäßig, die Stimmung von einer Heiterkeit, dass es mir auf meiner Decke im Sand sitzend egal war, die feierlichen Bilder als Hintergrund eines Scherenschnitts einer auf einer Bank weiter vorne sitzenden Gruppe von Zuschauenden zu erleben. Ab und zu kam die Botschaft vom Kommentierenden der Zeremonie: Wer könne, stehe jetzt bitte zur Nationalhymne auf. Alle, die konnten, standen auf, auch, als die amerikanische Hymne angekündigt wurde.
Menschen aller Nationalitäten, Haut- und anderer Farben wurden beklatscht. Ich hörte Ohs und Ahs. Ich hörte Lachen. We are the world. Ich dachte in diesen Stunden wirklich, das Wort Rassismus könne sich zum Arbeitsamt schleppen und würde dort kopfschüttelnd abgewiesen. Wenn Zuschauende hinzukamen und ihre Rucksackrücken vorschoben, wurden sie von den hinteren freundlich darum gebeten, ob sie vielleicht etwas weiter nach links oder rechts rücken könnten. Sie taten es.
Wir hörten Charles Aznavour, und sanft erhob sich manche Stimme und sang mit. Als Les Champs Elysées von Joe Dassin erklang, ein zur Hymne gewordenes Schlenderchanson von 1969, sang und schwang die Arena mit allen Generationen. Ich schickte meiner Schwester, die die Zeremonie in einer Bar in der Normandie verfolgte, eine Nachricht mit dem Feuchte-Augen-Emoji. Flugs empfing ich ein Umarmungsemoticon. Ich habe noch heute die Kassette meiner Mutter, die wir im Auto einlegten, als wir immer öfter zwischen Paris und Düsseldorf hin und her fuhren, bevor wir uns dort niederließen. Wenn der Autorecorder sie nach dem letzten Lied ausspuckte, drückten wir sie ihm wieder rein und sangen mit.
Nach den akrobatischen Darbietungen im Spiel mit den olympischen Ringen und dem spektakulären, um 90 Grad gekippten und mitsamt dem Pianisten vertikal nach oben gezogenen Flügel, an dem der hier meines Unwissens nach nicht berühmte Schweizer Alain Roche eine Hymne an Apollo spielte, ein antikes Stück, entziffert in den Ruinen von Delphi und 1894 zum ersten Mal in Paris aufgeführt, fiel das Dargebotene in eine eher banale Abfolge von Konzertauftritten ab, wie man sie sonst auch kennt. Vielleicht sehe nur ich das so, in der Arena von Lutetia wurde gejubelt. Wie damals in der Römerzeit.
Tom Cruise brachte mit einem irren Sprung am Seil in den Stade de France die Wende und nahm uns nach Los Angeles mit. Ich erfuhr erst hinterher, dass der Klotz am Bein keine Bremsvorrichtung war, sondern eine Fahne der Vereinigten Staaten, an die Cruise nicht gelangte. Ist das ein Omen für die Wahlen im November? Red Hot Chili Peppers und Snoop Dogg dort fand ich anregender, als was ich in Paris sah.
Ich drehte mich nach den Sicherheitskräften um. Ihre Gesichter leuchteten und manch einer hatte Mühe, Tanzschrittchen zu einem Wippen zu zähmen. Als die Zeremonie offiziell beendet war und damit das Public Viewing, fragte ich einen Polizisten: »Na, ist das alles nicht viel besser gelaufen als befürchtet?« »Ja«, erwiderte er freundlich, »aber jetzt ist der Moment, wo wir aufpassen müssen.« »Worauf genau?«, wollte ich erfahren. »Dass sich nicht irgendwelche Grüppchen bilden und plötzlich Randale machen.« Als ich unter den Letzten die Arena verließ, waren alle friedlich durch den schmalen Ausgang gelaufen und hatten sich bei den Sicherheitskräften bedankt und diese sich bei ihnen. »Et bonne fin de soirée !«
Heute, am Tag danach, fühlt sich Paris an, als würde Gott persönlich sich die Haare föhnen. Den ganzen Tag. Er soll ja überall sein. Also auch da, wo ich bin. Im elften Arrondissement. Es sind 38 Grad und in der Sonne noch mehr. Ich gehe wieder ins kühler gebliebene Haus und gucke mir am Abend noch französische Nachrichtensendungen mit Rückblicken an. Die Interviewten, ob an den Wettbewerben direkt beteiligt oder nur zuschauend, sind überschüttet von Endorphinen. Auch die Nachrichtensprecherin strahlt. Das tut sie oft, wie um die öfter schlechten Nachrichten zu relativieren.
Im Studio hat sie die französischen, in Tischtennis medaillenbehängten jungen Brüder Lebrun, die Fahnenträgerin der französischen Delegation der Paralympics Nantenin Keïta, die am 28. August eröffnet werden, und den Vorsitzenden des Organisationskomitees der Olympischen Spiele Tony Estanguet. Französische Nachrichten laufen oft geselliger ab als deutsche. Estanguet hat, wie gestern Abend bei seiner Abschlussrede, noch immer la banane, nämlich ein glückliches Lächeln. Er bestätigt, dass die anfänglichen Sorgen durch den allseits erlebbaren Olympiarausch weggefegt wurden. Alle hoffen auf eine Wiederholung des Glücks für die Paralympics, die am 28. August eröffnet werden. Es sind noch Plätze frei.
Dann suche ich im heute journal nach der Übertragung der Fröhlichkeit hier und wie sie in Deutschland kommentiert wird. Nach ein paar Bildern erscheint die Nachricht auf blaugrauem Hintergrund: »Die momentan laufenden Fernsehbilder dürfen aus rechtlichen Gründen nicht im Internet gezeigt werden. Es geht gleich weiter.« Gleich heißt mehrere Minuten. Ich klicke in die Tagesthemen und betrachte das etwas andere Blau, auf dem steht »Kurze Unterbrechung – Diese Bilder dürfen aus rechtlichen Gründen nicht gezeigt werden.« Es heißt, Blau beruhigt die Gemüter. Bei mir klappt es gerade nicht. Warum ist das Teilen der Bilder, die gut tun, nicht möglich? Zum Glück gibt es Videokanäle.
Nach der Nichtübertragung der fröhlichen Szenen wird in den Tagesthemen von der Zerstörung einer Schule mit etlichen Opfern in Gaza berichtet. Keine Pause von den Katastrophen. Und ja, sie geschehen, und es ist wichtig, dass über sie berichtet wird. Nur frage ich mich: Wie sollen wir etwas Positives in den Kopf bekommen, wenn es uns verwehrt wird? Krieg ja, olympisches Glück über alle Grenzen nein? Dabei ist ganz Paris noch trunken vor Freude.
Im Beitrag danach geht es um Haifa und die Angst vor Raketen. Wir erfahren, dass Bunker vom Militär sowohl von der Kommandozentrale als auch von zu Hause aus ferngesteuert geöffnet werden können.
Bombenstimmung ist zweierlei.