Damals warst Du leuchtend gelb, verhärtet, nummeriert und in der Mitte von einem dunkelbraunen Streifen durchzogen: Du, ticket de métro. Eine Fahrt, ein Ticket. Beim Umsteigen auf eine andere Linie behieltest Du Deine Gültigkeit. Hauptsache, das Umsteigen geschah unterirdisch.
Für mich warst Du auch der Fahrschein zum Glück. Es erscheint mir heute, umgeben von Sicherheitsvorkehrungen, unglaublich, aber ich lud mich in meiner Studienzeit auf dem Weg zur Hochschule in Paris oft ins Fahrerhäuschen ein. An der Station Maubert-Mutualité stieg ich ein. Immer war ich willkommen. Ich liebte das Rasen durch die Lichter der Tunnels. Die frontale, atemberaubende Aussicht bot sich damals nur neben dem Fahrer der Metro. Über die unerwartete Begleitung grinsend, kurbelte er an einer waagerechten Installation auf seinem Steuerbrett herum, während ich den Virus der Geschwindigkeit genoss. So lautet auch der Titel eines inzwischen uralten Artikels des Fotografen und Autors Harald Jahn, einem Wiener Bahnexperten mit vielen anderen Talenten, der heute noch regelmäßig Paris und die Metro abklappert, immer offen für Inspiration, die er gerne in sein Land importieren würde.
Im Bus musste man ein neues Exemplar von Dir lösen. Bus fahren mochte ich ebenfalls, auch wenn es oft den Virus der Langsamkeit enthielt. Trotz eigener Fahrspur war der Bus zeitweise gelähmt, durch unberechtigte Mitbenutzer, einen Stau, eine lahmende Großmutter, eben alles, was den Fluss der Fahrzeuge in Paris blockieren kann. Im Bus war ich oberirdisch mit der Stadt verbunden, mit ihren Gebäuden, ihren Schaufenstern, mit dem Wetter, mit den Menschen, die nach ihm rannten und jenen, die es ignorierten.
Harald Jahn kann den Bus nicht ausstehen, schätzt allerdings aus den gleichen Gründen, aus denen ich ihn liebe, die Vorteile der oberirdischen Fahrt über Schienen, nun über die Straßenbahn, die in Frankreich wieder auferstanden ist. Auch in Paris, wo sie es ermöglicht, statt – um einen Kilometer weiterzukommen – sternförmig zum Zentrum und zurück zu fahren, in Kürze zum nahegelegenen Ziel zu gelangen. Über all das hat Harald Jahn ein bemerkenswertes Buch geschrieben, voller inspirierender Reflektionen über sinnvolle urbane Eingriffe: Die Zukunft der Städte – Die französische Straßenbahn und die Wiedergeburt des urbanen Raumes.
Du, ticket de métro, warst auch immer eine Einladung, etwas zu notieren, das wenig Platz brauchte. Einen Gedanken, eine erste Zeile Gedicht, die man fürchtete, vor dem Aussteigen schon zu vergessen. Womöglich würde sie sich zu einem Werk entfalten. Berühmte Menschen komprimierten ihre Gedanken auf Dir. Hatte man keinen Zettel mehr, fand man Dich noch immer irgendwo auf dem Boden der zu großen Handtasche zwischen Tabakkrümeln, Du ludest zu Kürze und Prägnanz ein. Man konnte Dich auch mit einer Telefonnummer bekritzeln und als Visitenkarte überreichen. Vor einem Termin noch kurz die Zahnzwischenräume und die Trauerränder bearbeiten.
In den ersten Jahren der Achtziger wurdest Du zum Star in der Werbekampagne Ticket chic ticket choc. Später wurdest Du blau mit starkem Grünstich, auch lila, schließlich weiß. Leichenblass. Du ahntest die Auflösung. Deine Konsistenz blieb. Du warst ein Stückchen Festigkeit, das selbst in die kleine Jeanstasche hineinpasste, die eine oberhalb der großen Taschen vorne an den Hüften. Man konnte Dich von außen ertasten. Ein Rechteck aus Pappe, drei auf sieben Zentimeter klein. Nun wirst Du zu Grabe getragen. Du bist schon im kreditkartengroßen pass Navigo digitalisiert, auch auf Handy, Dein langsames Sterben hat längst begonnen.
Mein eigener Vater veranstaltete, als ich noch Kind war, in einer Reihe von Festivitäten um die Metro, auch Le cirque dans le métro. Der Zirkus in der Metro. Er brachte als kreativer Kopf einer Agentur für Beratung in Kommunikation verrückte Dinge zusammen. Notfalls zeichnete er, was mit Worten nicht zu erfassen war: Für das Fest wurde ein Nilpferd in eine Metrostation geschoben. Heute ist das aus anderen Gründen als damals undenkbar.
Ach ja, Du kleines Ticket, Du warst unendlich viel leichter als ein Nilpferd. Was wir jetzt herumtragen müssen, ist größer als Du, schwerer, und passt nicht in die kleine Tasche an den Hüften. Bald können wir Dich nur noch aufladen, virtuell besitzen. Das Smartphone enthält Dich in neuer Form, wie sollen wir darauf eine Zeile Gedicht kriegen? Diese eine Zeile, die wir früher in die Salatschüssel auf unserem Buffet am Eingang unserer Wohnung gleiten lassen konnten, über die wir Jahre später lachten. Von nun an müssen wir unsere Gedanken entweder auf etwas anderem notieren, oder wir vergessen sie.
Auf mein letztes Exemplar von Dir werde ich schreiben: Tu étais le compagnon fidèle de ma pensée éphémère. Du warst der treue Wegbegleiter meiner flüchtigen Gedanken. Ich dachte schon immer, dass Du auf vielerlei Weise ein Wegbereiter warst. Jetzt bist Du dort angelangt, wohin ich fast nie musste, heißt es für Dich: Endstation.
Sei nicht so traurig wie ich. Es geschieht um der Erde willen. Von der schütte ich ein wenig von meinem Schäufelchen auf Dein immaterielles Grab.
So ein schöner Text! Man fühlt sich dabei wie in der Metro.
Um ihn zu lesen – mitten im Arbeitstag, weil der Text mich jetzt erreicht hat – schalte ich selber einen Moment das Tempo runter.
Aber jetzt geht’s weiter: Türen schließen – Abfahrt!