Wer ist denn dieser Schlumpf?

Wer ist denn dieser Schlumpf?

Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris demontiert der Künstler Philippe Katerine als Dionysos die Absurdität von Krieg mit der Absurdität seines Humors voller Liebe

Philippe Katerine besingt den Frieden als sanfter Dionysos: Wer nackt ist, kann keine Waffe verbergen. Screenshot während der Eröffnungübertragung der Olympischen Spiele am 27. Juli 2024

26. Juli 2024. Endlich ist er da! Der große Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele, für den Paris das Unmögliche geschafft hat. Vielleicht. Am Morgen habe ich mir noch sehr detaillierte Infos in den Podcasts der Tageszeitung Le Monde angehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Zeremonie im Grunde nicht durchführbar ist.

Islamistische Terrorangriffe, Cyber- und Drohnenangriffe, Messerattacken in der Menge oder ein Einzelfall, der eine unvorhersehbare Kette von Panikreaktionen auslöst. Sie sind nur eine Auswahl der vielen Katastrophenszenarien, auf die sich Paris vorbereitet hat, so gut es geht. Den logistischen Wahnsinn, den diese Eröffnung mitten in der angeblich meistbesuchten Stadt der Welt bedeutet, nicht eingerechnet. Es ist ein Experiment, und nun, wo gerade TGV-Strecken an fünf Stellen sabotiert wurden, wollen wir gucken, wie es gelingt.

Zwischen zwei Aufenthalten in Paris sitze ich mit zwei Freunden und meiner Tochter vor einem großen Bildschirm im Wohnzimmer in Düsseldorf, gespannt auf die Eröffnungszeremonie. Sie beginnt mit Humor: Der in Frankreich berühmte Comedian Jamel Debbouze ruft, die Fackel in der Hand, in einem menschenleeren Stadion: »Huhu, Olympische Spiiieleee«. Er verzweifelt unter dem Echo der letzten Silbe. Ankündigungen in Nachrichten aus aller Welt werden eingeblendet: Alle außer Jamel wissen, dass die Zeremonie nicht wie sonst in einem Stadion, sondern im Herzen von Paris stattfindet.

Zum Glück eilt Zizou alias Fußballlegende Zinedine Zidane herbei und nimmt ihm die Fackel ab. Er weiß, wo es langgeht, sprintet heroisch unter wilden Jazztönen über Autos aus den Sechziger Jahren und andere Hindernisse, kauft am Schalter in einer Metrostation ein einzelnes Ticket, noch aus Pappe, steigt mit der Fackel in die Bahn. (Was, noch immer Metrotickets aus Pappe? Dazu der Beitrag Adieu, kleines Metroticket.)

Drei Kinder hechten ihm hinterher, die Metro fährt schon ab. Noch in der Station hält sie an. Die gerade enttäuschte Bande rennt hoffnungsvoll dorthin. Zizou öffnet ein Fenster, übergibt die Fackel an eins der erstaunten Kinder und streckt zur Ermutigung seinen Daumen hoch. Die Kinder schleichen mit dem kostbaren Gut in den Pariser Katakomben an den aufgestapelten Totenschädeln vorbei und werden von einer mysteriösen Figur mit weißer Kapuze und maskiertem Gesicht in einem unterirdischen Kanal in ihr Boot eingeladen.

Schon mit dieser selbstironischen Einleitung zeigt Frankreich, dass es für ein so traditionelles Ereignis ungewöhnliche Wege geht. Statt einer endlosen Abfolge bedeutender Persönlichkeiten und Panoramaaufnahmen von Menschenmengen in einem Stadion stehen für einen Moment drei Kinder im Fokus und vermitteln, worum es sich bei dieser Eröffnung handelt: Einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Sonst wäre es ja keins.

Dann der Kameraschwenk auf überirdisch, auf offizielle Tribüne, während dem der Schirmherr und Präsident Emmanuel Macron sowie der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach angekündigt und eingezoomt werden. Macron wirkt nicht entspannt, schüttelt Bach pflichtgemäß die Hand und umarmt ihn.

Wie in einem Karnevalszug sehen wir die Boote mit den Teilnehmern auf der Seine defilieren, staunen über manche Kleinstländer, die teilnehmen und Reiselust wecken. Wir erleben Lady Gaga klischeehaft als Revuestar mit viel plüschigem Rosa, dann Tänzerinnen und Tänzer vor unglaublichen Kulissen. Und Dragqueens.

Es sind so vielerlei Eindrücke, und die ganze Zeit ist mir bewusst, dass mit den zahlreichen Einzelspektakeln im großen Spektakel Bilder und Botschaften in die Welt gesandt werden, die, gelinde gesagt, für manches Stirnrunzeln sorgen werden. Paris, und damit Frankreich, präsentiert sich divers, verrückt, modern, klischeehaft, historisch, und dabei vor allem: frei. Und das nicht subversiv aus dem Untergrund, sondern als Nation. Das ist in der Welt, die wir heute erleben, eine Sensation. Dass es seit Stunden schüttet, ändert nichts an der Botschaft.

Zu aller Verrücktheit kommt noch er, umringt nicht nur, aber auch, von Dragqueens. Eine riesige Speiseglocke wird gelüftet, und wer wird uns da wie im feinen Restaurant serviert? Ich brauche zwei oder drei Sekunden, um die seitlich liegende Figur mit dem veralteten Mikrofon in der Hand zu erkennen. Sie glänzt von oben bis unten in Hellblau und ist nackt bis auf eine Krone aus Früchten und Blättern, einer ebensolchen Girlande um den Körper und – ja, einem diskreten, aber sichtbaren Slip. Haare und Bart sind gelb gefärbt. »Mensch, das ist ja Philippe Katerine!«, rufe ich aus, und meine Tochter lacht mit mir mit. Sie ist außer mir die einzige unter uns, die ihn kennt.

»Wer ist denn dieser Schlumpf da?«, höre ich aus der Runde. Unmöglich, das Universum von Philippe Katerine in dem Moment zu erklären. Ich gucke gebannt auf den großartigen Quatsch. Was dieser Künstler macht, wirkt meistens verrückt und ist es auch. Und enthält eine Menge Liebe und Poesie, eingebettet in sehr französischem Humor, auch wenn diesen bei weitem nicht alle in Frankreich teilen, jetzt deutlich weniger als zuvor.

Gäbe es Kriege, wenn wir einfach nackt geblieben wären? Nein. Wo einen Revolver verstecken, wenn man ganz nackt ist, wo? Ich weiß, an welchen Ort Sie denken, aber das ist keine gute Idee, singt Philippe Katerine. Als er die Zeile Vivre comme on est né, leben wie man geboren ist gesungen hat und mehrmals tout simplement tout nu, einfach ganz nackt wiederholt hat, lässt er zur weiteren Entblößung das Mikrofon wie zufällig aus den Händen fallen. Sein Auftritt ist so absurd wie seine Botschaft einfach und wahr.

Viele Jahre hat der Songschreiber, Schauspieler, Regisseur, Zeichner, Bildhauer und Schriftsteller, der seit 2010 mit Julie Depardieu sein Leben teilt, der Tochter von Gérard Depardieu, auf Erfolg gewartet, bevor er mit seinem Song Louxor j’adore Jahre zuvor den Durchbruch schaffte. In diesem Lied singt er J’adore regarder danser les gens, ich liebe es, die Menschen tanzen zu sehen.

Der Videoclip dazu beginnt irgendwo in tiefster französischer Provinz. Man sieht Jäger mit ihren Gewehren auf der Schulter, auf einer Straße fährt ein Laster heran, ein Jäger dreht sich um und erblickt das Unheil: Philippe Katerine tanzt auf der offenen Ladefläche wie in einer privat organisierten Gay pride im Slip mit hautengem rosa Rollkragenshirt und Mantel mit Fellbesatz inmitten von Frauen mit fahlblonden Perücken in ebensolchem Rosa sein J’adore, während der Laster durch ein französisches Dorf fährt, von denen es etliche gibt. Die Dorfbewohnerinnen und -bewohner allen Alters tanzen begeistert mit, dann singt er: Und von Zeit zu Zeit stelle ich den Ton ab – die Musik verstummt – und stelle ihn wieder an. Da geht die sehr tanzbare Musik wieder los, die Menge jubelt.

Genau in diesem Innehalten, in diesem Austritt aus der Wirklichkeit, wenigstens für einen Augenblick, liegt Philippe Katerines Kunst. Oder, wie er a cappella in einem 33-Sekunden-Liedchen wiederholt, in dem er immer näher ans Mikrofon kommt: Je m’éloigne d’autant que je m’approche. Ich entferne mich so weit, wie ich mich nähere. Prophetische Ausmaße nimmt diese Feststellung in seinem auch im Internet in Liveauftritten zu sehenden Stück Marine Le Pen von 2005 an. Darin erzählt der Protagonist jemandem folgende Story, hier etwas verkürzt adaptiert:

Ich gehe die Straße entlang, da ist dann dieses Mädchen mit langen, blonden Haaren, ich folge ihr, weil ich irgendwie scharf bin. Plötzlich dreht sich das Mädchen um, und was seh ich? Verdammt, Marine Le Pen, oh nein, das glaubst du nicht, das glaubst du einfach nicht, Marine le Pen, glaubst du das? (Das ist der Refrain!) Dann sag ich mir, ist gut, ich geh nach Hause. Ich überhole sie und laufe Avenue du Président Kennedy entlang bis zur Place de Varsovie (Warschauer Platz). (…) Ich dreh mich um, sie ist hinter mir, ich kriege Angst, sie verfolgt mich, ich gehe schneller, sie ist noch immer da, ich rufe ein Taxi, es ist besetzt, ich renne, es ist ein Alptraum, ich komme am Place de l’Etoile an, alles voller Autos, sie ist zwei Meter entfernt, ich spür’s, ich wag’s nicht, mich umzudrehen, da ruf ich ein Taxi, ein Wunder, es hält an, im letzten Moment, der totale Horror!

Ständig stellt er mit einem erfrischenden Sinn für Absurdität Konventionen in Frage, ja die Welt, in der wir leben, verschiebt die Grenzen dessen, was für uns selbst, aus einem komfortablen Stumpfsinn heraus, gerade noch akzeptabel erscheint.

Gerne verbindet er die Brutalität der Welt mit Zärtlichkeit. In seinem Lied Des bisous, Küsse fragt er in hysterischem Ton: Wofür sind wir hier? Für wen sind wir hier? Wofür machen wir uns in Läden verrückt? Was wollen wir im Grunde? Was suchen wir letztendlich, wenn wir uns verrückt machen? Worauf warten wir? Mit engelhafter Stimme singt er die einfache Antwort ganze fünfzehn Male: Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse Küsse.

Von den mehr als drei Worten, die es im Französischen für Kuss gibt – baiser, bise, bisou – singt Philippe Katerine das kindliche und vertraute, das man sich auch unter Freundinnen und Freunden beim Verabschieden sagt: bisou. Denn das bleibt dieser Künstler zum Glück: Ein weises Kind.

Diesen Beitrag können Sie in leicht veränderter Form auch auf Niederländisch im Magazin für Kunst und Kultur »Zout Magazine« lesen: https://www.zoutmagazine.eu/wie-is-deze-smurf/

Mitten im Chaos II: Chillen im Vakuum?

Mitten im Chaos II: Chillen im Vakuum?

Chillen im Vakuum auf dem Dach des alternativen Kulturorts Point Ephémère am Canal Saint Martin

Nur Stunden nach dem Ausgang der Europawahl am 9. Juni 2024 zugunsten der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National hat der französische Präsident Emmanuel Macron entschieden, die Assemblée Nationale aufzulösen, die Nationalversammlung. Sie bildet mit dem Sénat das französische Parlament. Wie ist die Stimmung vor den Neuwahlen bei den Menschen in Paris?

23. Juni 24. Heute ist endlich der Sommer ausgebrochen, es sind 27 Grad. In den letzten Tagen habe ich pausenlos Familie, Freundinnen und Freunde gesehen, zwischen ihren Lachern tiefes Stirnrunzeln, sobald es um Politik ging. Der Schock von Macrons Pokerspiel sitzt noch tief. Eben saßen wir noch in einem Café an der Seine auf der Ile de la Cité voller Touristinnen und Touristen. Bis zur nächsten Verabredung bleiben ein paar Stunden Zeit. Wasser wäre jetzt gut. Zum Trinken und zum Draufschauen.

Ja, Wasser und Vakuum. Der Canal Saint Martin ist nicht weit. Nach der Brücke bei der Haltestelle Jaurès entdecke ich die Übernachtungsvariationen im öffentlichen Raum. Hier eine Matratze mit Decke unter offenem Himmel, ein bißchen weiter ein paar Zelte. Ist man weniger obdachlos, wenn man unter einer Kunststoffplane lebt und diese an urbanem Mobiliar festgeknotet ist?

Darunter, am Ufer, ein kleiner Fuhrpark der Propreté de Paris, die städtische Müllabfuhr, mit Variationen an Fahrzeugen für verschiedene Methoden der Abfallbeseitigung.

Mein Ziel ist der vorhin von der Brücke erspähte Rooftop der Usines Ephémères mit Sonnenschirmen am Quai de Valmy auf der anderen Seite des Kanals. Rooftops sind hier Bars auf einem Dach, und die sind jetzt angesagt. Also rüber über die Schleusenbrücke auf die schmale Uferseite. Ein Mann sitzt direkt am Wasser vor Zelten, die sich um Pappeln gruppieren. Ich sehe von oben, wie er ins Wasser schaut, wir bilden eine Blickkaskade. Jäh steht er auf, holt aus der Außentasche eines Zeltes ein rotes Notizbuch heraus und kritzelt wie besessen hinein. Genau das will ich doch auch, also, aufi aufi! Bilder einsaugen und loswerden. Alles, was ich sehe, wird in dieser besonderen Situation zur Metapher. Jetzt taucht ein Hund mit Kopfhörern an der Leine einer Frau auf. Für einen Moment die Welt nicht hören. Le veinard! Der Glückspilz!

Auch ein Pariser Hund kann Noise reduction im Juni 2024 gut vertragen

Dann bleibe ich erstaunt über die roofless Wohninstallation stehen, die eine stylische städtische Toiletteneinrichtung in ihr Areal eingeschlossen hat. Vorne an der Absperrung hängt die Wäsche, daneben ein Gebetsteppich und eine Flasche Desinfektionsmittel. Perfekt organisiert.

Im Gebäude unter dem Rooftop finde ich eine kleine Tür, auf dem Schild daneben steht Point éphémère. Soviel wie »vorübergehender Halt« oder »Zwischenstation«. Genau da befindet sich Frankreich, und mit ihm Europa, das dorthin schaut. Seit zwanzig Jahren findet im Point éphémère alternative Kultur in allen Formen statt, doch ich bin hier zum ersten Mal. Zunächst gehe ich um das Gebäude herum, an die Terrasse der Bar im Erdgeschoss mit Grolsch-Plastikbechern und vielen jungen Leuten, dann locken mich Stimmen hinein. Auf einer Minibühne wird jemand interviewt, männlich bis divers, nennen wir diese Erscheinung Angel, denn auf ihrem ärmel- und bauchfreien Top steht: angel energy. Angel schüttelt seine langen, mit zwei Klämmerchen zurückgehaltenen Haare und erzählt gestenreich davon, was seine Dragmother in ihm bewirkt hat.

»Kannst du uns kurz erklären, was eine Dragmother ist?« fragt die Moderatorin und lächelt zur zehnköpfigen Zuschauergruppe auf den Bierbänken. »Im Wesentlichen ist sie eine Dragqueen, die einen unter die Fittiche nimmt und in ihre Welt einführt.« In diese Welt scheinen seine perfekt manikürten langen Finger mit zartrosa Nagellack zu weisen. Irgendwo, wo Engel sind. Also zu einem ganz anderen Ort als dem des Rassemblement National von Marine Le Pen, zu Planet Bubble ohne Politik.

Auf einem kleinen Podium im Point Ephémère geht es um Dragqueens und Dragmothers

Ich mache mich davon, greife im Vorbeigehen nach einem Flyer des gerade entstandenen Linksbündnisses Front Populaire und finde hinter der diskreten Tür von vorhin endlich die Treppe zum Dach. Es ist mit Kunstrasen ausgelegt und voller chilliger Leute im Gespräch auf Hockern, Bänken und Liegestühlen.

Ich weiß, dass das, was ich heute schreibe, in zwei Wochen hinfällig sein wird. Genau deswegen will ich es festhalten. Auf dem Flyer steht: Il ne nous reste plus que quelques jours pour écrire l’histoire de notre pays. Uns bleiben nur noch wenige Tage, die Geschichte unseres Landes zu schreiben. In einer Woche finden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt, dem Unterhaus des französischen Parlaments. Sieben Tage später der zweite Durchgang. Geht es nach den Umfragen, wird sich die extreme Rechte durchsetzen, also von den extremen Rechten die angeblich etwas weniger extremen Rechtspopulisten, seitdem es Eric Zemmour und seine Partei Reconquête gibt, »Rückeroberung«. Dieses Dach unter den Füßen, das leuchtende Orange in manchen Gläsern auf Unschuldhimmelblau erzählen von einer anderen Rückeroberung: Chillen im Vakuum.

Nachher wird im Rahmen der Fußballeuropameisterschaft Deutschland gegen die Schweiz spielen. Davon, und wie die Franzosen sich bald auf dem Spielfeld schlagen werden, handelt das Gespräch am Nachbartisch unter den drei Männern in ihren Dreißigern. Werden sie wählen gehen? Oder abwarten und Spritz trinken?

Der Tag ist viel zu schön für besorgte Blicke in die Zukunft, dennoch frage ich die drei Männer am Nachbartisch, ob die Wahlen für sie ein Thema sind. Ja, sie werden wählen gehen, wahrscheinlich blanc, das ist die Farbe Weiß, also niemanden. In Deutschland wählt man mit einem Kreuz, in Frankreich schiebt man das Zettelchen seiner favorisierten Partei in einen Umschlag. Oder eben keins, wenn man blanc wählt. Bis heute wird eine solche Proteststimme nicht mitgezählt. Meine Großmutter tat das gerne und kommentierte es, aber ich war damals zu jung zu begreifen, was ihre Entscheidung zur Folge hatte. Oder zur Folgenlosigkeit.

»Was erhoffen Sie sich davon, wenn Sie eine ungültige Stimme abgeben und Anderen die Verantwortung überlassen?« möchte ich wissen. »Sind Sie sicher, dass sie nicht zählt?« fragt einer. Aber sein Kumpel weiß das schon und bemerkt hinterher: »Wir sind sowieso nicht relevant für Paris, wir wählen woanders.« Der unglücksselige Abstand zur Hauptstadt, da ist er wieder.

»Es betrifft doch das ganze Land«, werfe ich ein, »wohin wünschen Sie sich denn, dass es geht?« Alle drei studieren die Tischplatte, einer nimmt einen Schluck Spritz, der andere keinen und schluckt trotzdem. »Tja, wir stecken zwischen zwei Extremen und finden uns in keinem wieder!« Die anderen nicken. Mit dem linken Extrem meint er den Kommunisten Mélenchon, der der gemäßigten Linke ein Dorn im Auge ist. Ich erwähnte ihn schon in dem Beitrag Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy.

»Also werden Sie sich nicht positionieren?«, hake ich nach. »Doch, schon«, sagt der, der eben noch blanc wählen wollte. »Aber wir wollen nicht darüber reden. Wählen ist eine private Angelegenheit.«

Diese Verschlossenheit ist mir neu in Paris. Bisher war es so, dass die Wählenden frei heraus sagten, wo sie stehen. Sie sind in Paris vielfach links der Mitte vertreten. Die Wähler von rechts außen sind vielleicht weniger redselig. Oder ich kenne sie noch nicht. Was verschweigen die Schweigenden? In gut zwei Wochen werden wir wissen, welche Aussage die Wahlurnen daraus ziehen werden.

Also doch abwarten und Spritz trinken. Und über die neuesten Tipps für Macron schmunzeln, die auf Aufklebern in den Straßen der capitale zu sehen sind: »Geh und mach deine Kunsttherapie – Iss deinen Pimmel – Absetzung!«. Aber wann ist Macron schon auf den Straßen in Paris und liest, wie er seine Zukunft gestalten soll?

Ein Aufkleber auf einer Straße in Paris mit Ratschlägen unter Macrons Portrait: »Geh und mach deine Kunsttherapie – Iss deinen Pimmel – Absetzung