Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Mitten im Chaos I: Abschied von Françoise Hardy

Thomas Dutronc bei der Trauerzeremonie für seine Mutter Françoise Hardy im Friedhof Père Lachaise. Links sitzen Brigitte Macron, Expräsident Sarkozy und Carla Bruni

Paris am 20. Juni 2024. Im Gegensatz zu Françoise Hardys Lied Jamais synchrones, Nie synchron, also nie gleichzeitig, das ihre Beziehung betraf, herrscht eine seltsame Synchronizität im Juni 2024: Vor kurzem hat Emmanuel Macron die Zukunft Frankreichs auf einen Spieltisch geknallt. Monsieur le Président löst nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Europawahlen mit überwältigendem Erfolg für Marine Le Pens Rassemblement National die Assemblée Nationale auf. Frankreich steht unter Schock.

Zwei Tage später, am 11. Juni 2024, postet Thomas Dutronc drei Worte über Instagram, geschmückt von roten Herzen:

Maman est partie. Mama ist von uns gegangen.

Maman, das ist Françoise Hardy. Eine intime Nachricht. Als hätten wir im engsten Kreis auf einer Sitzbank vor ihrem Zimmer darauf gewartet, dass ihr Sohn die Tür öffnet, leise wieder schließt und uns Bescheid gibt. Wir, das ist seine Familie, zu der ich nicht gehöre, aber gerade ist ganz Frankreich seine Familie, dann bin auch ich Teil von ihr.

Diese Nachricht landet mitten in der Aufregung, die uns in Frankreich erfasst hat. Wenn wir an Françoise Hardy denken, denken wir an ihre Stimme von rarer Sanftheit, die für so viele in Frankreich Erinnerungen an Momente weckt, in denen ihre Worte unseren Herzschmerz linderten. Ihre Lieder waren nie politisch, und auch darum verwirrt ihre Tonalität und kommt sie gerade recht. Sie hat mit all dem nichts zu tun, und ich wünschte, ihre warme, private Stimme würde sich über den Wahnsinn legen und alle beruhigen.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Das Leben besteht aus Teilen ohne Verbindung. Das ist der Satz, den Françoise Hardy und Alain Delon in ihrem Duett Modern Style wiederholen. Aber heute, am Tag der Bestattungszeremonie von Françoise Hardy auf dem Friedhof Père Lachaise, finden Teile zusammen, die sonst nicht zusammenfinden.

Um kurz vor 13 Uhr treffen meine Tochter und ich uns an der Metrostation Gambetta. Sie muss Homeoffice machen, wir gehen dafür in ein Café. Wir kommen an einer Mauer mit einem neuen Graffiti vorbei: Front populaire steht in rot gesprüht, darunter ein Smiley. Front populaire ist der in den letzten Tagen in der Not entstandene Zusammenschluß linker Parteien, von denen nicht alle zusammenpassen. Vor allem der gerissene Demagoge Mélenchon, Kopf der Partei La France Insoumise, Unbeugsames Frankreich, als Antisemit verschrieen, kein Freund der EU und auch keiner von Deutschland, ist vielen nicht geheuer und schadet dem linken Zusammenschluss. Es geht, mal wieder, um die Rettung vor Rechtsextremisten, die wegen noch extremerer Ansichten in der Parteilandschaft Frankreichs nun Rechtspopulisten genannt werden, und diesmal mehr denn je um die Rettung der Demokratie. Was in Frankreich geschieht, betrifft ganz Europa. Frankreich ist sauer auf Macrons Zockerei.

Vorhin ist meine Tochter mit dem Zug angekommen, mein Sohn wird Stunden später anreisen. Am Abend wollen wir ins Restaurant Casanova in Vitry-sur-Seine gehen, gleich unter Paris, das meine Schwester und mein Schwager 13 Jahre lang betrieben haben und jetzt verkaufen. Für diesen Abschied, den wir als Vorwand für eine Zusammenkunft erfunden haben, finden wir uns in Paris ein.

Kurz vor 15 Uhr kündige ich an: »Ich gehe jetzt zur Bestattungsfeier von Françoise Hardy«. Hunderte von Fans, die Françoise Hardy die letzte Ehre erweisen wollen, haben sich bis auf die Terrassen des Kolumbariums links und rechts des Krematoriumgebäudes aufgestellt. Nach und nach trudeln die Celebrities ein. Thomas Dutronc und sein Vater, der Sänger und Schauspieler Jacques Dutronc, Françoise Hardys große Liebe, sind bereits drin. Sie lebten schon lange getrennt, telefonierten aber noch jeden Tag miteinander. In Monticello auf Korsika, wo ihr Haus steht, soll die Urne beigesetzt werden.

Am Krematorium-Kolumbarium des Friedhofs Père Lachaise verabschieden sich Fans von Françoise Hardy

Es erscheinen Nicolas Sarkozy und seine Ehefrau, die Sängerin Carla Bruni, bald auch Brigitte Macron ohne ihren Mann. Es ist besser so. Von einigen wird sie stellvertretend für ihn ausgebuht, von anderen beklatscht. Wenn er kein Chaos angerichtet hätte, wäre wahrscheinlich auch er dabei, wie bei jedem Verlust eines französischen Superstars, letztes Jahr noch für Jane Birkin. Dann kommt der Sänger Etienne Daho, der fast Familienmitglied geworden und auch in Françoise Hardys letzten Stunden anwesend war. Und schließlich viele Stars, die im Ausland weniger bekannt sind, aber auch Adamo und der Regisseur François Ozon.

Meine Tochter kommt nach. Noch stehen wir draußen auf dem linken Flügel des Kolumbariums. Von dort aus sehen wir einen Seiteneingang ins Krematorium, das aber ein ganzes Gebäude ist, wie eine riesige Friedhofskapelle, für alle und keine Religionen gleichermaßen geeignet und genutzt. »Kann man eigentlich nur auf Einladung da rein?« fragt sich ein Mann im Selbstgespräch. Ich nehme seinen Gedanken auf.

Mutter und Tochter betreten den erspähten Seiteneingang. Wir gehen eine Treppe hoch, die zu einer geschlossenen Tür führt. Dann eben wieder runter, dort tritt meine Tochter in einen Aufzug, ich folge ihr. Sie drückt auf -1. Auf -1 öffnet sich die Tür. Eine Frau auf der Treppe gegenüber fragt: »Wo wollen Sie hin?« Schon schließt sich die Tür, wir fahren in den ersten Stock. Dort fragt eine Frau: »Kommen Sie für Françoise?« Wir sagen ja, weil es wahr ist, und treten ein.

Wir befinden uns im Raum der Zeremonie im engen Kreis und schleichen uns ganz nach hinten an eine Säule. In der vordersten Reihe links sitzen die eben aus der Ferne Wahrgenommenen: Brigitte Macron unter ihrem blonden Haarhelm, an ihrer Seite wedelt die markante Nase von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy neben den langen Haaren von Carla Bruni. In der ersten Reihe rechts vom Mittelgang sitzen ein uns Unbekannter neben Jacques Dutronc, seinem Sohn Thomas und Etienne Daho. Den ersten Platz der zweiten Reihe belegt der Fotograf Jean-Marie Périer, Françoise Hardys erster Liebespartner. Dieser lebenslange Freund hat ihr in alle möglichen Karrieren geholfen und wohl die meisten schönen Fotos von ihr in den ersten Jahren ihrer Berühmtheit gemacht. Er ist auch in einer Doku über sie zu sehen, die aus Anlaß ihres achtzigsten Geburtstags seit Monaten auf Arte läuft.

Wir sind jetzt Teil des intimen Kreises.

Ich kenne dieses Gebäude, ich kenne die Kanzel rechts. Von der aus habe ich zum Tod meines Vaters eine Rede voller Hoffnung gehalten, weil sein Sterben so geschmeidig verlief. Das wollte ich damals zum Trost der anwesenden Trauernden mitteilen. Heute wird keine Rede gehalten. Wir hören Françoise Hardys Stimme aus einem Interview. Dann erhebt sich ihr Sohn und sagt, es gebe technische Probleme, das Band liefe zu schnell ab. Das war schon damals so, als es um meinen Vater ging. Thomas Dutronc geht zum Technikpult rechts und wieder zurück, wendet sich an uns Teilnehmende, ob alles nochmal abgespielt werden soll, in der richtigen Geschwindigkeit. Keiner antwortet. Als Françoise Hardys Sarg die Stufen hoch getragen wird, ertönt ihr Lied Message Personnel. Ihre eigene Stimme begleitet sie, die lebendige Françoise steht der verstorbenen bei.

Der Zeremonieraum des Krematoriums Père Lachaise nach der Trauerfeier für Françoise Hardy

Ich erinnere mich. Es ist mehr als 30 Jahre her. Ich unterhielt von Paris aus mit einem Mann eine intensive Beziehung, die auf der Kippe stand. Ich half mir mit dem, was ich hatte. Ich nahm eine Kassette auf und schickte sie zu ihm nach Deutschland. Das erste Lied war Message Personnel, es beginnt so:

Au bout du téléphone, il y a votre voix
Et il y a les mots que je ne dirai pas
Tous ces mots qui font peur quand ils ne font pas rire
Qui sont dans trop de films, de chansons et de livres
Je voudrais vous les dire
Et je voudrais les vivre
Je ne le ferai pas
Je veux, je ne peux pas

Am Ende der Telefonleitung ist Ihre Stimme
Und die Worte, die ich nicht aussprechen werde
All diese Worte, die Angst machen, wenn sie nicht zum Lachen bringen
Die in zu vielen Filmen sind, in Liedern und Büchern
Ich möchte sie Ihnen sagen
Und ich möchte sie leben
Ich werde es nicht tun
Ich will es, ich kann es nicht

Und ja, diese Kassette, vor allem dieses erste Lied, in dem Françoise Hardy ausdrückte, was ich fühlte und mich nicht traute zu sagen, und wovon sie sang, sie traue es sich auch nicht, trug dazu bei, dass wir wieder zusammenkamen. Mein späterer Mann sagte dazu: Das ist gemein! Er unterlag – gerne – dem Zauber, aus dem heraus viel später zwei Kinder geboren wurden.

Ich höre dieses Lied in diesem Ort, sehe den Sarg und weiß um den Menschen darin. Ich blicke meine Tochter an, die neben mir steht. Es kann sein, dass diese Tochter und dieser Sohn, der nachher kommt, wenn all das vorbei ist, nie existiert hätten, wenn Françoise Hardy dieses Lied nicht gesungen hätte.

La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas. Ja. Aber manchmal kommen diese Teile doch zusammen, und manche werden ganz lebendig, werden Menschen und tragen einen Vornamen. Und einen Nachnamen, der auch meiner ist. Und stehen jetzt neben mir, oder kommen nachher mit dem Zug an. Und das ist mein message personnel an Françoise Hardy: Françoise, Sie können vermutlich was dafür. Merci. So viel merci wie nie.

Mit Toten im Theater – dank Wajdi Mouawad

Mit Toten im Theater – dank Wajdi Mouawad

Die Fassade des Théâtre La Colline: »Alle halten Euch ihre Fallen hin, Gelehrte, Politiker, Bankiers. Der Dichter reicht Euch seinen Rettungsring und, wenn er kann, seine Hand.«

26. Juni 2022. Heute findet im Theater La Colline in Paris, einem der nur sechs Staatstheater Frankreichs, eine Gedenkveranstaltung für die Toten statt. Der Eintritt ist frei für jeden, der teilnehmen will: A la vie, à la mort. Aufs Leben, auf den Tod. Auf die Bühne bringt sie seit einigen Jahren der außergewöhnliche Schriftsteller, Regisseur und Leiter des Theaters Wajdi Mouawad.

Meinen Camper, ein kleiner Lieferwagen, unauffällig wie das Auto eines Klempners, parke ich in der Rue des Rondeaux, ein paar Meter neben dem Eingang zum Friedhof Père Lachaise. Ich bin gespannt: Dieses Jahr soll der Hingeschiedenen nicht nur mit Lesungen und Gesängen gedacht werden, auch mit einem besonderen, poetischen Experiment.

Die Pandemie wütete, und mit ihr das Sterben in Einsamkeit, als das Theater zu einer individuellen telefonischen Begegnung lud. Wer trauernd zurückgeblieben war und der Einladung folgen wollte, konnte sich einer Schauspielerin oder einem Schauspieler anvertrauen. Sie waren von einer Coachin sorgfältig auf Trauergespräche vorbereitet worden, hörten aufmerksam zu, fühlten sich ein. Am Ende empfahlen sie einen literarischen Text, der Trost spenden sollte. Sie suchten ihn aus ihrem Gefühl heraus aus, zugeschnitten auf die hinterbliebene Person. Worte für die Sprachlosigkeit.

Wajdi Mouawad ist heute, am Abschlussabend, der in Anwesenheit aller Interessierten stattfindet, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne: »Ich suchte nach einem poetischen Moment, keinem esoterischen oder religiösen. Die Worte der Angehörigen sollten sich mit der Asche der Verstorbenen verbinden.« Dann spricht er davon, wie der von einem geliebten Menschen gesetzte Samen erst nach seinem Tod beginnt, im Hinterbliebenen zu keimen. Er weiß, wovon er spricht: Er war 21 Jahre alt, als seine Mutter starb und hat darüber ein bewegendes Theaterstück geschrieben und aufgeführt, in dem er sich selbst spielt: Mère. In einer Szene wendet er sich an sie: »Ich habe diese Szene geschrieben, um mit dir sprechen zu können.«

Die Liveschaltung wird angekündigt, auf einer Leinwand sehen wir in die Kulissen: Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter des Theaters tragen einen Radiorecorder durch die Gänge in höher liegende Stockwerke. Er enthält die Aufzeichnungen der Hinterbliebenen an ihre geliebten Toten. Wir verfolgen die Schritte der beiden, vernehmen die Geräusche jeder Tür, die sie öffnen, wieder führt ein enger Gang durch herabhängende Seile, dann erscheinen Treppen und schließlich die zum Dach des Theaters offene Tür. Auf einmal vereinnahmt der blaue Himmel die Leinwand, mit ihm werden auch die hier und dort verteilten weißen Wolken in den abgedunkelten Theatersaal geholt. Das Draußen ist drinnen. Wir sind in beidem. Der Recorder wird abgestellt. Die Mitarbeiterin hockt sich davor, ihre Hand streicht sanft zum Schalter. Wie lange gefangene Vögel werden die Worte befreit, in den Himmel gesandt. Wir hören sie nicht. Sie gehören denen, die sie gesagt haben und jenen, für die sie bestimmt sind.

Wie viele der Angehörigen mögen jetzt wohl anwesend sein, um endlich diesen Moment nachzuholen, der so gefehlt hat?

Nach langer Kommunikation zwischen den Hinterbliebenen und dem Himmel über Paris sollen die Aufzeichnungen auf einem USB-Stick im Kellerboden des Theaters vergraben werden. In 500 Jahren, so die Hoffnung, wird jemand die Kiste öffnen und die Worte der Verbundenheit abspielen. Mouawad inszeniert damit nicht nur einen Akt der Würdigung, wie er in der Pandemie auch in Paris nicht hat stattfinden können. Er schiebt das Trennende der Religionen und des Atheismus beiseite und sogar das der Vergänglichkeit. Er schafft einen künstlerischen Kosmos, in dem die Verbindung zwischen Tod und einem Leben weit in der Zukunft zelebriert wird. Reparation. Transmission. Ausblick. Sollte diese Kiste niemals geöffnet werden, haben wir zumindest einem poetischen Moment beigewohnt.

Doch zurück zur Wirklichkeit auf der Bühne: Dort findet eine Diskussion statt, die Mouawad selbst moderiert. Auch die japanische Schauspielerin Kaori Ito, die die Idee zu dem poetischen Experiment in Mouawad einpflanzte, ist dabei. Er befragt die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ihren Erlebnissen bei den Gesprächen: »Die Trauernden und wir kannten uns nicht. Wir sahen uns nicht, hörten nur unsere Stimmen. Das Wunder war: Wir fühlten uns ganz nah, wir fühlten Liebe.« Jemand fügt hinzu: »Wir dachten, es ginge vor allem um die Hinterbliebenen. Aber ein von ihnen geäußertes Detail, eine Brille, ein Schnurrbart, machte auch die Toten für uns lebendig.«

Wer hat schon öffentlich die Würdigung nachgeholt, für die in der Zeit der Pandemie kein Ort, keine Zeit eingeräumt wurden?

Nachdenklich und berührt gehe ich nach dieser Zusammenkunft ins Café nebenan, in dem sich traditionell das Theaterpublikum trifft und manche Schauspielerinnen und Schauspieler. Einen unpassenderen Namen in diesem sympathischen Viertel um die Place Gambetta kann man als Café nicht tragen: Café des Banques. Nichts hier hat auf den ersten Blick mit Finanzen zu tun. Die meisten reden von dem, was sie im Theater erlebt haben.

Rue Malte Brun: Das Theater La Colline mit zeitgenössischen Werken und Publikum jeden Alters, links das Café des Banques zum Austausch danach

Als das Café in den frühen Morgenstunden schließt, schlendere ich zu meinem Camper. Das Tor zum Friedhof Père Lachaise ist seit vielen Stunden verschlossen. In dem religionslosen, kirchenähnlichen Gebäude wurde zwanzig Jahre zuvor auch mein Vater bestattet. Er starb zu jung. Zum Glück auch zu jung, in der Würdelosigkeit der Pandemietode unterzugehen. Ich bin dankbar: Ich durfte bei ihm sein und erleben, wie schön sterben sein kann. Seitdem hat sich meine Sicht auf den Tod gewandelt. Ich ziehe die Decke über mich, erinnere die Trauerfeier: Ich hatte dort von dem Glück gesprochen, dabei gewesen zu sein und überrascht zu werden. Wenn man will, kann man alles wie ein Theaterstück sehen. Manchmal ist das ein guter Trick.

Die Gedenkfeier im Theater hätte meinem Vater gefallen. Dafür, dass eine Idee, die in einem Menschen entstanden ist und von einem anderen umgesetzt wurde, sich in den Himmel über Paris und in viele Seelen gestreut hat, dafür liebe ich diese Stadt. Ich gähne zufrieden. Hier ist möglich, was woanders nicht mal erdacht wird. Das fühlt sich nach Heimat an.

Père Lachaise I – Einsatz auf dem meistbesichtigten Friedhof der Welt

Père Lachaise I – Einsatz auf dem meistbesichtigten Friedhof der Welt

Ich gieße die Stifte am Grab von Tignous, Opfer des Attentats auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015

Ich sitze auf einer Bank an einer Kreuzung im Friedhof Père Lachaise, an einer Ecke steht ein Schild: Division 90. Ich überlege, warum die Einheiten, in die der Friedhof unterteilt ist, einen militärischen Begriff bemühen. Auf der Seite der Bundeswehr lese ich: „Die Division ist ein militärischer Großverband im Heer.“ Welchen Krieg müssen Tote ausfechten?

Eine Frau schwenkt einen papiernen Friedhofsplan und ruft ihrer Begleiterin und ihren Begleitern zu: „Wir sind jetzt in der einundvierzigsten! Wir können hier oder da lang gehen.“ Die andere Frau schwenkt den gleichen Plan, der Mann tippt etwas in sein Handy, dreht es um 90 Grad, schaut sich um, tippt wieder etwas ein, schwenkt den Kopf nach links. Zusammen gehen sie ein paar Meter hinunter. Ob analog oder digital, die richtige Strategie scheint noch nicht gefunden: Sie kommen mit flatternden Plänen wieder zurück.

Ich habe mich von Beginn an auf zufälliges Finden eingelassen, eben wie Zufall funktioniert: fällt sich zu. Sie suchen einen Menschen unter den 70 000, vereint im Jenseits, deren Überreste hier unter Grabsteinen liegen.

Schon Stunden wackelt das gestern auf der Theke einer in der Nähe des Friedhofs gelegenen Buchhandlung erblickte Buch des Friedhofsvorstehers des Père Lachaise, Benoît Gallot, in meiner Handtasche durch Löwenzahn, Gras, Efeu über Stein: La vie secrète d’un cimetière. Das geheime Leben eines Friedhofs. Vor dem Blick in dieses Buch war mir nie bewusst gewesen, dass der Père Lachaise, in dem ich in den letzten Jahrzehnten manchmal herumgestreunt bin, der größte und meistbesuchte Friedhof der Welt ist. So steht es dort jedenfalls.

Seit dem 1. August 2018 ist Benoît Gallot mit nur 36 Jahren Herr der Totenstadt geworden, und ihm war bange bei dem Gedanken, ob er auf der Höhe dieses historischen Ortes sein könnte. Er habe sofort die Bürde des mythischen Friedhofs empfunden, der das Prunkstück des tourisme funéraire sei, des Bestattungstourismus. Stimmt, zwischen denen, die sich im Notfall auf einen Friedhof begeben und jenen, die gerne dort herumstreunen, gibt es noch jene, die zwischen Eiffelturm und Louvre noch einen Friedhof mitnehmen. Gallots Sorge war, den Friedhof mit allen Facetten zu erfassen, um seinem Ruf gerecht zu werden, ihn würdig vertreten und bestmöglich leiten zu können.

70 000 Tote sind noch nicht genug. Weitere 26 000 sterbliche Überreste befinden sich in Urnen im Kolumbarium. Dieser Begriff, in dem colombe steckt, eine hübsche Form der Taube, bezeichnete tatsächlich einen Taubenschlag. Er besteht aus kleinen, in Hallen streng symmetrisch angeordneten Fächern, in denen eine oder mehrere Urnen Platz haben. Manche Familiengräber seien vor Generationen und à perpétuité, also auf ewig erstanden worden, schreibt Gallot. Haben die Vorfahren ein solches Grab erstanden, was man damals noch konnte, so haben die Nachkommen – sie sind auf der ganzen Welt verstreut – ein Anrecht auf ein Plätzchen in Paris.

Für jemanden, der sich zu Lebzeiten ein pied-à-terre, eine Bleibe, in der französischen Metropole wünscht und vorausschauende Ahnen hatte, ist der Platz in Paris ein attraktives Attribut zum Tod. Die Lebenden müssen dort für einen Quadratmeter Raum mindestens 10.000 Euro hinblättern, die Toten werden ganz in Ruhe in Pariser Erde gelegt.

Der Vorstellung von diesem Friedhof als ewig verschlafenem Ort widerspricht Gallot: Bestattung geschehe im Spiegel einer Epoche und würde sich unaufhörlich an die neuen Bedürfnisse anpassen, die die Lebenden ausdrückten. Diese Fähigkeit zur dauernden Neuerfindung seit seinem Bestehen habe dem Père Lachaise erlaubt, etliche Wandlungen zu durchleben, die ihm einen neuen Atem, eine neue Seele eingehaucht hätten, ohne seine Funktionen als vollwertigem Friedhof aufzugeben.

Etwa 3000 Tote finden sich im Jahr hier zusammen, 6000 werden inhumiert, bleiben aber nicht unbedingt dort, sondern werden nach der Zeremonie und der Übergabe der Urne an andere Stätten gebracht. Jährlich wird die Asche von 1300 Verstorbenen verstreut. Dafür sind die „Jardins du souvenir“ vorgesehen, seit 2013 wird deren Existenz in jedem Friedhof in Frankreich vorgeschrieben. Ich habe in der im Père Lachaise vorgesehenen Fläche die Asche in Linien ausgestreut gesehen, auf manchen liegen Blumen. Einige sind ganz frisch, manche verwelken bereits.

Wie Religion in unseren Gesellschaften an Bedeutung verloren habe, so habe sie es auch auf dem Friedhof, erzählt Gallot in seinem Buch. Die ehemals für Juden und Muslime vorgesehenen Felder sind nur noch historisch. Bei einem Spaziergang über den Friedhof wird sichtbar, dass alle miteinander liegen. Der Wandel der Bestattungssitten bringt es mit sich, dass heute die wesentlichen Aktivitäten und die nötige Ausstattung auf die Kremierung fallen: Am wichtigsten sind das Krematorium, das Kolumbarium und der Garten, in dem die Asche ausgestreut wird. Um sowohl diesen Bedarf zu befriedigen, als auch die historischen Grabkapellen zu bewahren, werden manche von ihnen zu Kolumbarien umrestauriert.

Gleich dem Ouroboros, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, schreibt Gallot, sei alles ein ewiger Neubeginn. Vielmehr, als das Erbe zu bewahren oder ein enzyklopädisches Wissen über die Verstorbenen zu erringen, ginge es darum, sich am Tod zu reiben, an den Verstorbenen aller Horizonte und an ihren trauernden Angehörigen. Über Särge zu sprechen, Asche, Exhumierung, Gruften, Recht auf Inhumierung und Grabsteine. Trauerzüge und Gedenkfeiern zu organisieren. Eine Einrichtung zu leiten, deren Nutzer Trauer eint. Eine Tätigkeit zu begleiten, die Angst hervorrufe, aber in seinen Augen eine der schönsten öffentlichen Dienstleistungen darstelle. »Ich bin nicht vom Tod besessen, ich sehe ihn kaum. Einen Friedhof verwalten, heißt vor allem, die Lebenden zu begleiten.«

Eine geführte Besichtigung ist im Anmarsch. Die Gruppe bleibt vor dem Grab von Georges Moustaki stehen. Der Friedhofsreiseleiter fragt: »Kennen Sie ihn?«. Er stimmt eins seiner Lieder an, keiner stimmt mit ein. »Er hat auch für Edith Piaf komponiert. Jetzt ist Moustaki bald zehn Jahre tot.« Er verweist auf ein Werbeschildchen, das vorne rechts im Grab steckt. »Bald wird im Olympia ein Gedenkkonzert stattfinden, vielleicht gehen Sie doch mal hin …«

Moustaki hat auch mit Barbara gesungen, fällt mir ein. Sie ist zwar im Ausland nicht so bekannt, aber in Frankreich und auch für Gérard Depardieu so bedeutend, dass dieser monatelang mit ihren Liedern aufgetreten ist, als sie schon längst verstorben war. Bei seinen Konzerten war fast so viel Prominenz wie auf dem Père Lachaise. Ich löse mich von der Gruppe und ziehe weiter, bin in Gedanken, und die erblickt man gerne am Boden, als wüchsen sie aus ihm empor. Als ich den Namen Tignous höre, bleibe ich stehen und gehe die paar Schritte zurück zum Grab aus schwarzem Mamor. Links oben sehe ich ein Foto von ihm. Er ist einer der Zeichner, die beim Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ermordet wurden.

»Sehen Sie den Topf dort? Die Menschen stecken da Stifte rein.«, sagt der Leiter lächelnd, der eben noch für Moustaki geworben hat. Der Hinweis findet keine Resonanz.

Die Blumentöpfe auf Tignous‘ Grab sind frisch, nur ein Töpfchen mit Rosen ist umgefallen, sehe ich erst, nachdem ich das Grab von allen Seiten fotografiert habe. Ein paar Meter weiter bedient ein Mädchen eine Wasserpumpe und hüpft davon. Ich greife nach dem vertrockneten, umgefallenen Rosentopf, gehe zur Wasserpumpe, wässere ihn.

»Pardon, Madame, wo geht’s hier bitte zum Krematorium?«, fragt mich eine gut gekleidete Dame. »Immer geradeaus, Sie können es nicht verfehlen.«, antworte ich. Ich als alter Friedhofshase? Ich stelle den Rosentopf zurück und schiele auf den mit den Stiften, die in seiner Erde stecken. Eine Familie mit zwei Töchtern kommt vorbei. Die Mutter bleibt stehen.

»Ach, Tignous!«, ruft sie aus. »Der ist von den Terroristen erschossen worden.«

»Gibt es hier Terroristen?«, fragt ihre Tochter.

»Wie?«, entgegnet die Mutter.

»Ich meine, hier auf dem Friedhof.«

»Nein… Nein nein! Mach dir keine Sorgen!«

Der Blick der Mutter begegnet meinem. Blitzartig entlarven wir gemeinsam den geschickt improvisierten mütterlichen Pfusch. Was wissen wir schon? Dann schlendert die Familie weiter Richtung Ausgang.

Ich schnappe mir den Topf mit den Stiften und gehe zur Wasserpumpe, betätige den Hebel und lasse Wasser in den Topf fließen. Passanten bleiben stehen, gucken erstaunt. Ich blicke unbeirrt auf den Wasserstrahl. Stifte zu gießen scheint mir weitaus weniger verrückt als die Ereignisse, die Tignous unter die Erde zwangen.