In einem Dorf in Paris

Bei „Chez Gladines“ hat die Street Art Künstlerin MissTic das Tragen des Gehirns zur Pflicht erklärt.

Vor kurzem schrieb mir jemand und erinnerte mich an eine sympathische Begegnung; auch an die Stimmung im Frühsommer 2022. Wir (Menschen) tasteten uns noch durch die zeitlichen Ausläufer der Pandemie in eine neue alte Welt. Wie frisch aus der Reha entlassen. Was äußerlich wie früher wirkte, nahmen wir zugleich als Täuschung wahr. Wir hatten das Normale lange vermisst, teilweise verlernt. Mit einem kleinen Selbstbetrug, das meiste sei doch wie früher, lernten wir allmählich wieder, uns in der Öffentlichkeit zu zeigen, zu bewegen, miteinander zu kommunizieren. Noch im Sommer waren wir uns selbst ein Frühling, blühten mit jeder Wiederentdeckung neu auf.

Flashback: Der Kalender zeigt den 25. Juni 2022 an. In einem Dorf in Paris. Das Viertel La Butte aux Cailles liegt im dreizehnten Arrondissement und ist von ein paar Sträßchen mit niedrigen Häusern durchzogen. Wer es kennt, weiß um seine knapp befüllten Portemonnaies freundlich gesonnenen Gastronomie, seinen sozialistischen Geist, seinen Zusammenhalt in dörflicher Atmosphäre. Ähnlich Belleville, das im 20. Arrondissement liegt. Und ganz anders als das Pariser Chinatown, nur ein paar Straßen entfernt und genauso typisch für das treizième, das Dreizehnte (Arrondissement).

Die Butte aux Cailles ist auch bekannt für ihre Street Art Tags. Auf der rechten Außenwand des baskischen Restaurants Chez Gladines verfügt Miss.Tic: Port du cerveau obligatoire. Tragen des Gehirns verpflichtend. Ich blicke mich um. Kontrolliert das jemand? Jedenfalls nicht die berühmte Pariser Street Art Künstlerin, sie ist letzten Monat leider verstorben. Ohne klare Antwort, ob ich einzutreten berechtigt bin, finde ich mich zwischen rotweiß karierten Tischdecken wieder. Gläser spülend grüßt der Barkeeper und weist mir einen Platz zu. Endlich wieder hier, höre ich mich hinter keiner Maske murmeln.

Noch während meiner Nachforschungen am eigenen Wesen darüber, wie sich »neue Normalität« hier im Restaurant anfühlt, wird mir ein Tischnachbar zugeteilt. Bonjour! Er setzt sich schräg gegenüber von mir. Sich unter Unbekannten einen Tisch zu teilen, ist in Frankreich nicht üblich, die meisten Tische sind dazu viel zu klein, oft berühren sie sich fast. Aber im familiären Chez Gladines, vor dem häufig hungrige Menschen Schlange stehen, läuft es anders. Das erste, was ich wissen muss: Gibt es sie noch? Die Escalope montagnarde, eine schmackhafte Spezialität des Hauses, die einen für den Rest des Tages umhaut: Ein Kalbschnitzel mit Kartoffeln, Schinken, Käse aus dem Cantal, on top noch Champignoncremesoße.

Der freundliche Herr studiert wie ich die Speisekarte, wir kommen darüber ins Gespräch. Ich warne ihn vor der Spezialität, falls er noch etwas vorhabe: Wenn Sie wirklich mit Hirn reinkamen, finden Sie es beim Rausgehen nicht wieder! Er bestellt einen Poulet basquaise, ein baskisches Huhn mit Reis.

Happen um Happen erfahre ich, dass er ein frankophoner Amateur-Opernsänger mit russischen Wurzeln ist. Un chanteur lyrique. Wir sprechen davon, wie wir uns langsam in ein neues Leben einfinden. Er möchte wieder singend auftreten, am liebsten als Blaubart in Jacques Offenbachs gleichnamiger Operette. Immerhin, den Bart trägt er schon. Ich kommentiere mein Vorhaben, am nächsten Tag der außergewöhnlichen Veranstaltung von Wajdi Mouawad im Théâtre La Colline beizuwohnen. Von dieser habe ich in dem Beitrag Mit Toten im Theater berichtet.

Es stellt sich heraus, dass er von Mouawad genauso begeistert ist wie ich. Was sich sonst noch herausstellt? Das meiste unseres Gesprächs habe ich vergessen. Verdammt, ich kann es nicht mal auf das Bergschnitzel schieben! Aber das weiß ich noch: Er verspricht mir, mich anzuschreiben, wenn ein Auftritt in Aussicht steht. Wir tauschen unsere Mailadressen aus, er geht. Bevor ich das Lokal verlasse, kehre ich nochmal zurück und greife nach der Quittung, die er auf dem Tisch hinterlassen hat. Wozu? Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, dass ich später einen Blog feelingparis.net über dieses Pariser Gefühl beginnen werde.

Nun, über ein Jahr später, hat er mich angeschrieben. Ich werde ihm diesen Beitrag schicken und ihn fragen, was er von unserer Begegnung noch weiß. Davor und danach werde ich das anhaltende Glück der zufälligen Begegnungen genießen. Überall auf der Welt, und oft in Paris. Mich freuen, dass wir die Stadt im Dorf und das Dorf in der Stadt wieder maskenlos erleben können. Feeling Paris? Dazu braucht es kein Hirn. Und schon gar keine Maske. Vielleicht mal ganz was anderes. Ich denke da an einen blauen Bart.

2 Gedanken zu „In einem Dorf in Paris

  • 9. Oktober 2023 um 13:56 Uhr
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    Wie elastisch die Zeit ist! Man hat das Gefühl, dass Juni 2022 zwei oder drei Jahre her ist!
    In Bezug auf die Butte aux Cailles kann man hinzufügen, dass sich die Tags an den Wänden sehr oft ändern, manchmal mehrmals im Monat! Und es gibt noch weitere Street-Art-Spots in Richtung Belleville und Montmartre. Weiter geht’s mit der Entdeckung!

  • 19. Oktober 2023 um 7:16 Uhr
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    Apropos sympathische zufällige Begegnungen und das daraus erwachsede anhaltende Glück, liebe Céline: Danke. Danke, dass du gestern unserem Gespräch gelauscht hast und uns angesprochen hast. Das war so eine zauberhaft erfrischende Begegnung mitten im lauten chaotischen Fichtekränzi. Ich habe diese erste Szene über die Stadt, die in dir lebt mit Genuss gelesen und freue mich auf mehr von dir.

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