Wie die richtigen Worte finden, um den Pianisten, Sänger, Komponisten, Dichter, Schauspieler, Filmemacher, Provokateur und Förderer weiblichen Gesangs Serge Gainsbourg aus seiner Gefangenschaft als Urheber vornehmlich des Du-weißt-schon-Liedes zu befreien? Im Ausland wird er oft nur als Komponist von Je t’aime… moi non plus wahrgenommen, das er 1967 für Brigitte Bardot ersann, nachdem sie ihn um das schönste Liebeslied gebeten hatte, das er sich vorstellen könne. Sie hatten zusammen eine Affäre. Ihr Ehemann, Gunther Sachs – ja, der, du weißt schon! – sperrte sich gegen die Veröffentlichung, und so wurden 40 000 Singles eingestampft und Jane Birkin zwei Jahre später zum hauchenden Skandalstar.
Welchem Skandal genau? Ich weiß nicht, wie oft ich im Laufe meines Lebens nach einer Übersetzung allein des Titels Je t’aime… moi non plus gefragt wurde. Zu Recht, ich verstand den Sinn eine ganze Weile selbst nicht! Wörtlich ist er im Deutschen nur schwerfällig wiederzugeben: Ich liebe dich… ich dich auch nicht. Auf Englisch funktioniert das Unmögliche geschmeidiger: I love you… me neither.
Der wirkliche Skandal ist, dass das Oh-là-là-Image dieses Stücks in krudem Gegensatz zur Tiefgründigkeit seines Titels steht: In der Welt noch immer vor allem als erotische Stöhnhymne eines vermutlich als dauerkopulierend fantasierten französischen Volkes wahrgenommen, enthält es in einer Zeile die unendliche Geschichte der Liebe und umarmt dabei gleichzeitig… die Nichtliebe. Vielmehr als die Geschichte von du liebst mich, aber ich liebe einen anderen, oder andersherum, führen diese sechs Worte an den Abgrund der Liebe. Gar an eine philosophische Hinterfragung: Gibt es Liebe? Was ist sie überhaupt? Kann es sie geben, wenn sie nicht erwidert wird?
Was Gainsbourg noch alles konnte, zeigte bis zum 3. September 2023 eine kleine Ausstellung in der frei zugänglichen Bibliothek des Centre Pompidou: Serge Gainsbourg – le mot exact. Ja, es geht um die Genauigkeit des Wortes.
Tatsächlich bezog der ehemalige Barpianist mit ukrainischen Wurzeln für seine Texte die größte Inspiration aus der Literatur, und es sind in seinen Liedern etliche Verweise auf sie zu hören. Daher ist neben den Manuskripten und einigen Utensilien eine Auswahl seiner liebsten Bücher ausgestellt.
Als Besucher die französische Sprache zu beherrschen ist hilfreich und macht Spaß. Doch gibt es über den Inhalt der Worte hinaus die Sprache des Schriftbilds. Gainsbourg war ein feiner Zeichner, und die Faszination des historisch gewordenen Dokuments, das mal ein bloßer Zettel war, nach dem hastig gegriffen wurde, um eine Idee festzuhalten, wird im Gesamtbild zahlloser Kritzeleien vermittelt.
Versuche, Irrungen, Streichungen auf dem Weg zum fertigen Liedtext illustrieren das beharrliche Heranfühlen, auch für einen, der heute als Genie bezeichnet wird. Wie eine Schnecke musste er auf dem Pfad zum genauen Wort jedes abtasten, ob es in seiner Bedeutung, seiner Musikalität, die Laute malen konnte, die sich mit den Worten seiner Umgebung verbinden sollten.
Ob er ein Genie war, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall war er ein touche-à-tout, ein Allesanfasser: Ein Neugieriger, der in permanenter Verführung, sich auszuprobieren, alles anrührt. Es gibt in seinem Werk viel Spielerisches, Witziges, Großartiges, Mittelmäßiges. Klar ist: Gainsbourg gehört, noch immer, zum patrimoine culturel, zum Kulturerbe Frankreichs.
Außenstehenden ist schwer vermittelbar, welchen Platz er, Jane Birkin und deren schauspielende und singende Tochter Charlotte im französischen Volk noch heute einnehmen. Die dreistündige Trauerfeier der kürzlich verstorbenen Birkin wurde live übertragen, auf Bildschirmen vor der Kirche Saint-Roch sowie im Fernsehen und im Internet, jetzt ist sie noch in voller Länge auf YouTube nachzuverfolgen. Emmanuel Macron meldete sich aus der Ferne zu Wort, seine Frau Brigitte war mit einer Unmenge französischer Stars anwesend, darunter Catherine Deneuve. Viele verfolgten die herzzerreißenden Worte der beiden übrig gebliebenen Töchter Birkins, Charlotte Gainsbourg und Lou Doillon, deren Vater der Filmemacher Jacques Doillon ist.
Im September 2023 wurde Charlottes jahrelang aufgeschobenes Projekt verwirklicht, das Haus ihres Vaters in der rue de Verneuil der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit all den Kuriositäten, die er ansammelte. Schon zu seinen Lebzeiten war es eine Art Tempel: Auf der Mauer zur Straße hin hinterließen Fans ihre Liebeserklärungen. Ein paar Häuser weiter ist ein Museum entstanden. Die Tickets für die „House & Museum Tour“ waren vor Monaten schon ausgebucht.
In Frankreich haben wir in den Achtzigern und darüber hinaus mit dieser Familie gelebt, ihre Lieder gehört und gesungen, ihre Auftritte und neuen Platten abgewartet, ihre Skandale verfolgt und ihre Abgründe, Trennungen und Neuordnungen mitgekriegt. Wir haben mit ihnen gezittert, gestaunt und geweint, selbst wenn wir es nicht wollten. Sie waren omnipräsent. Dabei haben sowohl Gainsbourg als auch Birkin Kinder aus anderen Verbindungen, diese wurden teilweise ebenfalls publik. Als die Beziehung mit Jane Birkin zerbrach, fand sich Gainsbourg mit seiner letzten Frau zusammen, Bambou, und wurde Vater von Lulu, Lucien Gainsbourg. Auch dieser ist in einem Lied verewigt worden, das sein Vater komponierte. Ein Meisterwerk ist es nicht, seine Mutter trug das nicht einmal mittelmäßige Stück ohne jegliche Begabung vor.
Vorher hatte Gainsbourg die – teilweise – fragwürdigen stimmlichen Talente der größten Stars auszuheben versucht und veröffentlicht: Brigitte Bardot, Françoise Hardy, France Gall, Isabelle Adjani, Catherine Deneuve, Fanny Ardant sangen seine eigens für sie komponierten Lieder.
Serge Gainsbourg ist 1991 gestorben. Ich habe ihn 1988 auf seiner letzten Tournee im Zenith erlebt, einer großen Konzerthalle in Paris. Weil er in seinen dreiunddreißig Jahren Musikkarriere statt allmählich zu vergilben sich permanent erneuerte, fanden sich im Publikum alle Generationen vertreten. Selbst in den kurzen Momenten, in denen er nichts sagte, nicht sang, nur ganz leicht auf der Bühne wankte, war der Saal erfüllt von einer Zartheit. Er konnte noch so sexbezogen provozieren: Zu spüren war ein zerbrechlicher kleiner Junge im Körper eines sechzigjährigen Kettenrauchers mit Leberzirrhose.
In seinem ersten Erfolg als Sänger nahm er in »Le poinçonneur des Lilas« seine letzte Ruhestätte vorweg. Bevor das Metroticket maschinell entwertet wurde, stanzte der poinçonneur mit einem Gerät ein kleines Loch hinein. Der Refrain des Liedes, in dem der poinçonneur an seiner Bedeutungslosigkeit und der Monotonie seiner Tätigkeit verzweifelt, geht so: J’fais des trous, des p’tits trous, toujours des p’tits trous. Ich mache Löcher, kleine Löcher, immer kleine Löcher. Am Ende singt er: Et on m’mettra dans un grand trou et j’n’entendrai plus parler d’trous, de petits trous. Man wird mich in ein großes Loch stecken und ich werde nicht mehr von Löchern hören, kleinen Löchern. Wie es um das Metroticket heute bestellt ist, steht übrigens in dem Beitrag »Adieu, kleines Metroticket«.
Wer eine ganz andere Hymne von Serge Gainsbourg hören will als Je t’aime… moi non plus, kann sich La Javanaise anhören, ein in Gitarre und sanftem Rhythmus gebettetes Chanson voller Geigen und Shalala mit elegantem Text, das Gainsbourg 1963 für Juliette Gréco schrieb, später selbst sang. Nicht nur meine Großmutter nahm es wieder auf, während sie Teller abtrocknend um ihren Küchentisch tanzte, sogar Iggy Pop und Manu Dibango, auch die Jazzsängerin Madeleine Peyroux und viele andere. Und natürlich sang es Jane Birkin auf ihren Konzerten, lange, nachdem Gainsbourg in dem großen Loch begraben war.
Fast alle in Frankreich kennen La Javanaise und können es anstimmen. Ein Satz lautet: J’avais envie de voir en vous cet amour. Ich wollte in Ihnen diese Liebe sehen. Am Ende mag ein Teil französischer Seele vibrieren: Nous nous aimions le temps d’une chanson. Wir liebten uns für die Dauer eines Liedes.
Aber hey, bevor das nächste Klischee entsteht: Das heißt nicht, Französinnen und Franzosen könnten nicht länger lieben als die zweieinhalb Minuten dieses Stücks. Nur, dass manche unter ihnen auch in einem Lied alles zu träumen bereit sind. Womit ein neues Klischee erschaffen wäre. Oder ist es uralt?
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Dieser Beitrag von August 2023 wurde an Serge Gainsbourgs 96. Geburtstag am 02.02.2024 aktualisiert.
Es gibt ihn auch auf Niederländisch im Magazin für Kunst und Kultur »Zout Magazine« zu lesen: Als een slak op weg naar het juiste woord – over Serge Gainsbourg