Früher als erwartet verlasse ich eine Galerie im Marais, im Kopf noch die großformatigen Malereien meines Bruders. Ich habe Zeit zu verplempern und schlendere durch die Straßen des dritten Arrondissements, bis ich in der rue Vieille du Temple vor dem seltsamen kleinen Exponat eines Schmuckgeschäfts halte.
Die sanften Wölbungen und unterschiedlich großen Waben eines silbernen Rochens ziehen mich in ihren Bann. Obwohl er an einer Kette hängt, scheint er zu schweben. Wie ist es möglich, dass dieses Stück so organisch wirkt? In einem anderen Teil des Schaufensters sehe ich Wortringe und Kettenanhänger, die aus ganzen Sätzen bestehen. Ich versuche, den mir abgewandten Teil zu erraten. Auf einmal steht ein Mann neben mir und lädt mich ein, weitere Kreationen in seinem Geschäft zu entdecken. Er ist so freundlich, ich lasse mich darauf ein.
Die Seite gegenüber dem Eingang ist eine offene Werkstatt. Ein anregendes Sammelsurium, das sich zunächst vor allem als Landschaft begreifen lässt, wirkt dann wie das ausgebreitete Universum des imposanten Gorillakopfes aus silbernem Metall, der davor ruht. Er ist dem Ladenteil mit den Vitrinen zugewandt, scheint, den Mund skeptisch verzogen, in eine Unterwelt zu blicken. Diesen Kopf könnte ich sofort mitnehmen. Ich halte mich zurück und wende mich den sorgfältig ausgewählten Ausstellungsstücken zu.
Während ich Text und Form der Kettenanhänger begutachte, beginnt Bruno Caby zu erzählen, seine gesprochenen Worte verweben sich mit den zu Metall gegossenen. Er sei mal Industriedesigner gewesen und über Umwege als Autodidakt zum Schmuck gekommen. Fasziniert von Worten, habe er gleichzeitig unter einer Leserechtschreibschwäche gelitten, die ihm das Leben erschwert habe. »Schließlich habe ich die Situation umgekehrt und Worte zu meinem Objekt gemacht.« Ohne diese „Schwäche“, weiß er, hätte es dieses Geschäft nicht gegeben: »Auch deswegen heißt mein Geschäft Beautiful Accident.«
Nun hat er die Buchstaben, und wie sie zusammenfinden, im Griff. Er experimentiere noch mit anderen Sprachen als Französisch, es funktioniere nicht mit allen. Die diakritischen Zeichen in manchen Sprachen – also diese Dingerchen, die um die Buchstaben herumscharwenzeln wie der Umlaut bei äöü, die Tilde auf mañana oder das accent circonflexe in tête (de gorille) – erforderten viel Fantasie.
Unter den Neugierigen, die wissen wollten, wie er Buchstaben und Zeichen technisch zusammenführen könne, hätten manche verzweifelt versucht, seine Technik zu kopieren. »Die Menschen suchen oft nach etwas Kompliziertem, aber im Grunde ist es ganz einfach. So einfach, dass sie nicht darauf kommen.« Ich gucke ihn an: »Und, wie machen Sie das?« Er lächelt. »Das bleibt mein Geheimnis.« Bruno Caby hat für seine Kreationen ein Patent angemeldet.
In unserer Gesprächspause fällt mir ein: »Willst du ins Schwarze treffen, ziele daneben.« Immer wieder stellt sich diese Empfehlung als weise heraus, meistens in der Rückschau auf eine Situation, in der jemand etwas unbedingt wollte, erfolglos. Stattdessen bekam, was er nicht erwartet hatte.
Wir führen unser Gespräch fort: Eine Gruppe von Freundinnen und Freunden habe bei ihm ein besonderes Geburtstagsgeschenk bestellt, einen Ring mit ihren Namen. Ich denke an Eheringe und die Zweisamkeit der Ehen, die gehen und manchmal vergehen. Freundinnen und Freunde, die Namen dieser vielleicht lebenslänglichen Begleitpersonen, um den Finger zu wickeln, das ist, zumindest für mich, etwas Neues. Und dann habe es noch die Bestellung eines Freundschafts-Armbands gegeben. In ihm habe Caby neben den Namen der Freunde auch ein von jedem ausgesuchtes Schlüsselwort eingearbeitet, das die Beziehung mit der beschenkten Person verband. Eine Hymne auf die Besonderheit jeder Freundschaft, die man am Arm tragen kann.
Meine Augen wandern wieder von einem Gebilde zum nächsten. Vor einer Art Meeresschnecke frage ich, ob es den Begriff bionique noch gibt. »Meinen Sie biomimétisme?« Im Deutschen wird beides noch gebraucht, Bionik und Biomimetik. »Ich arbeite auch mit dem Schwammkürbis.« Ah ja, denke ich, unser Freund der Schwammkürbis, und lande in meinem Hirnarchiv bei der Seegurke. Nein, es geht nicht um Seegurken, stellt sich heraus, sondern um Luffa, aus dem auch Peelingschwämme hergestellt werden. Er lasse Wachs über das pflanzliche Feingewebe fließen, erklärt Caby, wobei die Luffastruktur sich unter den hohen Temperaturen auflösen würde. In die entstandene Wachsstruktur würde Metall gegossen. Heraus käme ein Schmuckstück aus zartem Fädengewirr, eine Art Negativ zum Ursprung. Auch das ist Beautiful accident. »Es ist leichter etwas zu finden, wenn man nicht weiß, was man sucht. Einfach mit dem Material experimentiert.« Morphogenese, ein Begriff aus der Evolutionsbiologie, ist hier im Kopf und in den Händen am Werk.
Mit den Augen ertasten macht Spaß, reicht mir dann doch nicht. Ich habe die Kette mit dem Rochen noch nicht ausgezogen, als Caby mit etwas Untragbarem kommt. »Schauen Sie mal. Hier habe ich das Gedicht La beauté von Baudelaires Les fleurs du mal verarbeitet.« Die Schönheit aus Die Blumen des Bösen. Eine schleifenartige Acht aus Buchstaben, die das Gedicht ergeben. Er versucht es vorzulesen. Die Buchstaben kleben aneinander, die Lesart ist ungewohnt. Wir lachen.
Als ich das Geschäft verlasse, gucke ich mir nochmal den Rochen im Schaufenster an. Charles Baudelaire ist der Autor von Le spleen de Paris. Auch Caby hat einen Spleen, und der steckt in jedem seiner Schmuckstücke. Seine Experimentierfreude, sein liebevoller Blick, seine poetische Vision leiten ihn von Findung zu Findung, bis in die Hände. Erst seine, dann unsere.
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