26. Juni 2022. Heute findet im Theater La Colline in Paris, einem der nur sechs Staatstheater Frankreichs, eine Gedenkveranstaltung für die Toten statt. Der Eintritt ist frei für jeden, der teilnehmen will: A la vie, à la mort. Aufs Leben, auf den Tod. Auf die Bühne bringt sie seit einigen Jahren der außergewöhnliche Schriftsteller, Regisseur und Leiter des Theaters Wajdi Mouawad.
Meinen Camper, ein kleiner Lieferwagen, unauffällig wie das Auto eines Klempners, parke ich in der Rue des Rondeaux, ein paar Meter neben dem Eingang zum Friedhof Père Lachaise. Ich bin gespannt: Dieses Jahr soll der Hingeschiedenen nicht nur mit Lesungen und Gesängen gedacht werden, auch mit einem besonderen, poetischen Experiment.
Die Pandemie wütete, und mit ihr das Sterben in Einsamkeit, als das Theater zu einer individuellen telefonischen Begegnung lud. Wer trauernd zurückgeblieben war und der Einladung folgen wollte, konnte sich einer Schauspielerin oder einem Schauspieler anvertrauen. Sie waren von einer Coachin sorgfältig auf Trauergespräche vorbereitet worden, hörten aufmerksam zu, fühlten sich ein. Am Ende empfahlen sie einen literarischen Text, der Trost spenden sollte. Sie suchten ihn aus ihrem Gefühl heraus aus, zugeschnitten auf die hinterbliebene Person. Worte für die Sprachlosigkeit.
Wajdi Mouawad ist heute, am Abschlussabend, der in Anwesenheit aller Interessierten stattfindet, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne: »Ich suchte nach einem poetischen Moment, keinem esoterischen oder religiösen. Die Worte der Angehörigen sollten sich mit der Asche der Verstorbenen verbinden.« Dann spricht er davon, wie der von einem geliebten Menschen gesetzte Samen erst nach seinem Tod beginnt, im Hinterbliebenen zu keimen. Er weiß, wovon er spricht: Er war 21 Jahre alt, als seine Mutter starb und hat darüber ein bewegendes Theaterstück geschrieben und aufgeführt, in dem er sich selbst spielt: Mère. In einer Szene wendet er sich an sie: »Ich habe diese Szene geschrieben, um mit dir sprechen zu können.«
Die Liveschaltung wird angekündigt, auf einer Leinwand sehen wir in die Kulissen: Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter des Theaters tragen einen Radiorecorder durch die Gänge in höher liegende Stockwerke. Er enthält die Aufzeichnungen der Hinterbliebenen an ihre geliebten Toten. Wir verfolgen die Schritte der beiden, vernehmen die Geräusche jeder Tür, die sie öffnen, wieder führt ein enger Gang durch herabhängende Seile, dann erscheinen Treppen und schließlich die zum Dach des Theaters offene Tür. Auf einmal vereinnahmt der blaue Himmel die Leinwand, mit ihm werden auch die hier und dort verteilten weißen Wolken in den abgedunkelten Theatersaal geholt. Das Draußen ist drinnen. Wir sind in beidem. Der Recorder wird abgestellt. Die Mitarbeiterin hockt sich davor, ihre Hand streicht sanft zum Schalter. Wie lange gefangene Vögel werden die Worte befreit, in den Himmel gesandt. Wir hören sie nicht. Sie gehören denen, die sie gesagt haben und jenen, für die sie bestimmt sind.
Wie viele der Angehörigen mögen jetzt wohl anwesend sein, um endlich diesen Moment nachzuholen, der so gefehlt hat?
Nach langer Kommunikation zwischen den Hinterbliebenen und dem Himmel über Paris sollen die Aufzeichnungen auf einem USB-Stick im Kellerboden des Theaters vergraben werden. In 500 Jahren, so die Hoffnung, wird jemand die Kiste öffnen und die Worte der Verbundenheit abspielen. Mouawad inszeniert damit nicht nur einen Akt der Würdigung, wie er in der Pandemie auch in Paris nicht hat stattfinden können. Er schiebt das Trennende der Religionen und des Atheismus beiseite und sogar das der Vergänglichkeit. Er schafft einen künstlerischen Kosmos, in dem die Verbindung zwischen Tod und einem Leben weit in der Zukunft zelebriert wird. Reparation. Transmission. Ausblick. Sollte diese Kiste niemals geöffnet werden, haben wir zumindest einem poetischen Moment beigewohnt.
Doch zurück zur Wirklichkeit auf der Bühne: Dort findet eine Diskussion statt, die Mouawad selbst moderiert. Auch die japanische Schauspielerin Kaori Ito, die die Idee zu dem poetischen Experiment in Mouawad einpflanzte, ist dabei. Er befragt die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ihren Erlebnissen bei den Gesprächen: »Die Trauernden und wir kannten uns nicht. Wir sahen uns nicht, hörten nur unsere Stimmen. Das Wunder war: Wir fühlten uns ganz nah, wir fühlten Liebe.« Jemand fügt hinzu: »Wir dachten, es ginge vor allem um die Hinterbliebenen. Aber ein von ihnen geäußertes Detail, eine Brille, ein Schnurrbart, machte auch die Toten für uns lebendig.«
Wer hat schon öffentlich die Würdigung nachgeholt, für die in der Zeit der Pandemie kein Ort, keine Zeit eingeräumt wurden?
Nachdenklich und berührt gehe ich nach dieser Zusammenkunft ins Café nebenan, in dem sich traditionell das Theaterpublikum trifft und manche Schauspielerinnen und Schauspieler. Einen unpassenderen Namen in diesem sympathischen Viertel um die Place Gambetta kann man als Café nicht tragen: Café des Banques. Nichts hier hat auf den ersten Blick mit Finanzen zu tun. Die meisten reden von dem, was sie im Theater erlebt haben.
Als das Café in den frühen Morgenstunden schließt, schlendere ich zu meinem Camper. Das Tor zum Friedhof Père Lachaise ist seit vielen Stunden verschlossen. In dem religionslosen, kirchenähnlichen Gebäude wurde zwanzig Jahre zuvor auch mein Vater bestattet. Er starb zu jung. Zum Glück auch zu jung, in der Würdelosigkeit der Pandemietode unterzugehen. Ich bin dankbar: Ich durfte bei ihm sein und erleben, wie schön sterben sein kann. Seitdem hat sich meine Sicht auf den Tod gewandelt. Ich ziehe die Decke über mich, erinnere die Trauerfeier: Ich hatte dort von dem Glück gesprochen, dabei gewesen zu sein und überrascht zu werden. Wenn man will, kann man alles wie ein Theaterstück sehen. Manchmal ist das ein guter Trick.
Die Gedenkfeier im Theater hätte meinem Vater gefallen. Dafür, dass eine Idee, die in einem Menschen entstanden ist und von einem anderen umgesetzt wurde, sich in den Himmel über Paris und in viele Seelen gestreut hat, dafür liebe ich diese Stadt. Ich gähne zufrieden. Hier ist möglich, was woanders nicht mal erdacht wird. Das fühlt sich nach Heimat an.