Mein Einsatz auf dem Friedhof Père Lachaise

Mein Einsatz auf dem Friedhof Père Lachaise

Ich gieße die Stifte am Grab von Tignous, Opfer des Attentats auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015

Ich sitze auf einer Bank an einer Kreuzung im Friedhof Père Lachaise, an einer Ecke steht ein Schild: Division 90. Ich überlege, warum die Einheiten, in die der Friedhof unterteilt ist, einen militärischen Begriff bemühen. Auf der Seite der Bundeswehr lese ich: „Die Division ist ein militärischer Großverband im Heer.“ Welchen Krieg müssen Tote ausfechten?

Eine Frau schwenkt einen papiernen Friedhofsplan und ruft ihrer Begleiterin und ihren Begleitern zu: „Wir sind jetzt in der einundvierzigsten! Wir können hier oder da lang gehen.“ Die andere Frau schwenkt den gleichen Plan, der Mann tippt etwas in sein Handy, dreht es um 90 Grad, schaut sich um, tippt wieder etwas ein, schwenkt den Kopf nach links. Zusammen gehen sie ein paar Meter hinunter. Ob analog oder digital, die richtige Strategie scheint noch nicht gefunden: Sie kommen mit flatternden Plänen wieder zurück.

Ich habe mich von Beginn an auf zufälliges Finden eingelassen, eben wie Zufall funktioniert: fällt sich zu. Sie suchen einen Menschen unter den 70 000, vereint im Jenseits, deren Überreste hier unter Grabsteinen liegen.

Schon Stunden wackelt das gestern auf der Theke einer in der Nähe des Friedhofs gelegenen Buchhandlung erblickte Buch des Friedhofsvorstehers des Père Lachaise, Benoît Gallot, in meiner Handtasche durch Löwenzahn, Gras, Efeu über Stein: La vie secrète d’un cimetière. Das geheime Leben eines Friedhofs. Vor dem Blick in dieses Buch war mir nie bewusst gewesen, dass der Père Lachaise, in dem ich in den letzten Jahrzehnten manchmal herumgestreunt bin, der größte und meistbesuchte Friedhof der Welt ist. So steht es dort jedenfalls.

Seit dem 1. August 2018 ist Benoît Gallot mit nur 36 Jahren Herr der Totenstadt geworden, und ihm war bange bei dem Gedanken, ob er auf der Höhe dieses historischen Ortes sein könnte. Er habe sofort die Bürde des mythischen Friedhofs empfunden, der das Prunkstück des tourisme funéraire sei, des Bestattungstourismus. Stimmt, zwischen denen, die sich im Notfall auf einen Friedhof begeben und jenen, die gerne dort herumstreunen, gibt es noch jene, die zwischen Eiffelturm und Louvre noch einen Friedhof mitnehmen. Gallots Sorge war, den Friedhof mit allen Facetten zu erfassen, um seinem Ruf gerecht zu werden, ihn würdig vertreten und bestmöglich leiten zu können.

70 000 Tote sind noch nicht genug. Weitere 26 000 sterbliche Überreste befinden sich in Urnen im Kolumbarium. Dieser Begriff, in dem colombe steckt, eine hübsche Form der Taube, bezeichnete tatsächlich einen Taubenschlag. Er besteht aus kleinen, in Hallen streng symmetrisch angeordneten Fächern, in denen eine oder mehrere Urnen Platz haben. Manche Familiengräber seien vor Generationen und à perpétuité, also auf ewig erstanden worden, schreibt Gallot. Haben die Vorfahren ein solches Grab erstanden, was man damals noch konnte, so haben die Nachkommen – sie sind auf der ganzen Welt verstreut – ein Anrecht auf ein Plätzchen in Paris.

Für jemanden, der sich zu Lebzeiten ein pied-à-terre, eine Bleibe, in der französischen Metropole wünscht und vorausschauende Ahnen hatte, ist der Platz in Paris ein attraktives Attribut zum Tod. Die Lebenden müssen dort für einen Quadratmeter Raum mindestens 10.000 Euro hinblättern, die Toten werden ganz in Ruhe in Pariser Erde gelegt.

Der Vorstellung von diesem Friedhof als ewig verschlafenem Ort widerspricht Gallot: Bestattung geschehe im Spiegel einer Epoche und würde sich unaufhörlich an die neuen Bedürfnisse anpassen, die die Lebenden ausdrückten. Diese Fähigkeit zur dauernden Neuerfindung seit seinem Bestehen habe dem Père Lachaise erlaubt, etliche Wandlungen zu durchleben, die ihm einen neuen Atem, eine neue Seele eingehaucht hätten, ohne seine Funktionen als vollwertigem Friedhof aufzugeben.

Etwa 3000 Tote finden sich im Jahr hier zusammen, 6000 werden inhumiert, bleiben aber nicht unbedingt dort, sondern werden nach der Zeremonie und der Übergabe der Urne an andere Stätten gebracht. Jährlich wird die Asche von 1300 Verstorbenen verstreut. Dafür sind die „Jardins du souvenir“ vorgesehen, seit 2013 wird deren Existenz in jedem Friedhof in Frankreich vorgeschrieben. Ich habe in der im Père Lachaise vorgesehenen Fläche die Asche in Linien ausgestreut gesehen, auf manchen liegen Blumen. Einige sind ganz frisch, manche verwelken bereits.

Wie Religion in unseren Gesellschaften an Bedeutung verloren habe, so habe sie es auch auf dem Friedhof, erzählt Gallot in seinem Buch. Die ehemals für Juden und Muslime vorgesehenen Felder sind nur noch historisch. Bei einem Spaziergang über den Friedhof wird sichtbar, dass alle miteinander liegen. Der Wandel der Bestattungssitten bringt es mit sich, dass heute die wesentlichen Aktivitäten und die nötige Ausstattung auf die Kremierung fallen: Am wichtigsten sind das Krematorium, das Kolumbarium und der Garten, in dem die Asche ausgestreut wird. Um sowohl diesen Bedarf zu befriedigen, als auch die historischen Grabkapellen zu bewahren, werden manche von ihnen zu Kolumbarien umrestauriert.

Gleich dem Ouroboros, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, schreibt Gallot, sei alles ein ewiger Neubeginn. Vielmehr, als das Erbe zu bewahren oder ein enzyklopädisches Wissen über die Verstorbenen zu erringen, ginge es darum, sich am Tod zu reiben, an den Verstorbenen aller Horizonte und an ihren trauernden Angehörigen. Über Särge zu sprechen, Asche, Exhumierung, Gruften, Recht auf Inhumierung und Grabsteine. Trauerzüge und Gedenkfeiern zu organisieren. Eine Einrichtung zu leiten, deren Nutzer Trauer eint. Eine Tätigkeit zu begleiten, die Angst hervorrufe, aber in seinen Augen eine der schönsten öffentlichen Dienstleistungen darstelle. »Ich bin nicht vom Tod besessen, ich sehe ihn kaum. Einen Friedhof verwalten, heißt vor allem, die Lebenden zu begleiten.«

Eine geführte Besichtigung ist im Anmarsch. Die Gruppe bleibt vor dem Grab von Georges Moustaki stehen. Der Friedhofsreiseleiter fragt: »Kennen Sie ihn?«. Er stimmt eins seiner Lieder an, keiner stimmt mit ein. »Er hat auch für Edith Piaf komponiert. Jetzt ist Moustaki bald zehn Jahre tot.« Er verweist auf ein Werbeschildchen, das vorne rechts im Grab steckt. »Bald wird im Olympia ein Gedenkkonzert stattfinden, vielleicht gehen Sie doch mal hin …«

Moustaki hat auch mit Barbara gesungen, fällt mir ein. Sie ist zwar im Ausland nicht so bekannt, aber in Frankreich und auch für Gérard Depardieu so bedeutend, dass dieser monatelang mit ihren Liedern aufgetreten ist, als sie schon längst verstorben war. Bei seinen Konzerten war fast so viel Prominenz wie auf dem Père Lachaise. Ich löse mich von der Gruppe und ziehe weiter, bin in Gedanken, und die erblickt man gerne am Boden, als wüchsen sie aus ihm empor. Als ich den Namen Tignous höre, bleibe ich stehen und gehe die paar Schritte zurück zum Grab aus schwarzem Mamor. Links oben sehe ich ein Foto von ihm. Er ist einer der Zeichner, die beim Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ermordet wurden.

»Sehen Sie den Topf dort? Die Menschen stecken da Stifte rein.«, sagt der Leiter lächelnd, der eben noch für Moustaki geworben hat. Der Hinweis findet keine Resonanz.

Die Blumentöpfe auf Tignous‘ Grab sind frisch, nur ein Töpfchen mit Rosen ist umgefallen, sehe ich erst, nachdem ich das Grab von allen Seiten fotografiert habe. Ein paar Meter weiter bedient ein Mädchen eine Wasserpumpe und hüpft davon. Ich greife nach dem vertrockneten, umgefallenen Rosentopf, gehe zur Wasserpumpe, wässere ihn.

»Pardon, Madame, wo geht’s hier bitte zum Krematorium?«, fragt mich eine gut gekleidete Dame. »Immer geradeaus, Sie können es nicht verfehlen.«, antworte ich. Ich als alter Friedhofshase? Ich stelle den Rosentopf zurück und schiele auf den mit den Stiften, die in seiner Erde stecken. Eine Familie mit zwei Töchtern kommt vorbei. Die Mutter bleibt stehen.

»Ach, Tignous!«, ruft sie aus. »Der ist von den Terroristen erschossen worden.«

»Gibt es hier Terroristen?«, fragt ihre Tochter.

»Wie?«, entgegnet die Mutter.

»Ich meine, hier auf dem Friedhof.«

»Nein… Nein nein! Mach dir keine Sorgen!«

Der Blick der Mutter begegnet meinem. Blitzartig entlarven wir gemeinsam den geschickt improvisierten mütterlichen Pfusch. Was wissen wir schon? Dann schlendert die Familie weiter Richtung Ausgang.

Ich schnappe mir den Topf mit den Stiften und gehe zur Wasserpumpe, betätige den Hebel und lasse Wasser in den Topf fließen. Passanten bleiben stehen, gucken erstaunt. Ich blicke unbeirrt auf den Wasserstrahl. Stifte zu gießen scheint mir weitaus weniger verrückt als die Ereignisse, die Tignous unter die Erde zwangen.

Ute ohne Plan

Ute ohne Plan

Früher die »Bibel«: Der alte Plan de Paris, mit allen Arrondissements auf einer Doppelseite, Übersichtsplan, Verzeichnis, Metroplan

Er ist alt, er ist speckig, er droht bei jedem Auseinandergefaltetwerden innerlich zu zerreißen. Und Paris droht in Kolonialmanier – also ungeachtet der achtzig quartiers und zwanzig arrondissements – in Rechtecke zerteilt zu werden, hier wären sie 8 x16 cm klein. Mein alter Plan von Paris, ein Büchlein mit alphabetischen Verzeichnissen aller Straßen, Theater, Ministerien, Kirchen, nach Religionen aufgeteilt, Metro- und Buslinien, einzeln aufgeführt, und Plänen der einzelnen Arrondissements. Dass der Übersichtsplan der Metro nach 35 Jahren immer noch an der Innenseite der vorderen Umschlagseite klebt!

Der Plan de Paris hat meine diversen Handtaschen und alles, was sie enthielten, jahrelang von innen gesehen. Meine verrotzten Papiertaschentücher, meine entkapselten Lippenstifte, die Fettmoleküle meiner von Tabakfilamenten durchzogenen Cremes, mit denen meine Finger eingeschmiert waren, als sie ihn, immer wieder, zu Rate zogen.

Eine Stadt, deren Bewohner einen Plan brauchen, ist eine Metropole. Eine Metropole enthält auch für ihre Bewohner jede Menge Unentdecktes. Zum einen, weil sie viel zu groß ist, erfasst zu werden, zum anderen, weil es in ihr wuselt. Die beste Möglichkeit, Paris zu entdecken, ist nicht herumzuirren. Vielmehr, sich an eine Caféterrasse zu setzen und die Flüchtigkeit der Umherirrenden zu betrachten.

Du nippst ganz ruhig an deinem vor Stunden bestellten, erkalteten Espresso, und um dich herum schwirrt das Leben als Collage Hunderter Leben. Jedes bewegt sich in eigener Dringlichkeit, immer muss jemand mindestens von A nach B, droht zu spät zu kommen: Zur Arbeit, zu einem freundschaftlichen Treffen, einer Vorlesung, einem Briefing, ins Kino, ins Theater, ins Konzert. In den Supermarkt, in die Metro, in eine Ausstellung, in den Kindergarten, in die Schule. Zum Arzt, zum Podologen, zum Friseur, in die Bäckerei, zum Traiteur, wo es Mitnehmspeisen gibt, die man keine Zeit oder Lust hat, selbst zuzubereiten.

Während sich deine Geschmacksknospen an einem Minischluck Espresso zusammenziehen, fährt, rennt, humpelt die Welt um dich herum. Jene, die stehen bleiben, sind oft Touristen. Die Schlenderer unterliegen zumeist einer amourös bedingten Verlangsamung. Der Rest von Paris als Mensch hastet. Früher manchmal auch mit dem Büchlein in der Hand, das Paris zusammenhielt.

Ich habe länger auf dem Land gelebt, in Deutschland. Meine Kinder haben sich jahrelang im Bauernhof nebenan von Strohbergen auf Heuballen gestürzt, kamen zerzaust wegen plötzlich auftretenden Hungers zurück. Sie tobten durch ihre Welt, und diese Welt streute Strohhalme über ihre Häupter. Sie waren in Kontakt.

Es ist schon lange her. Wir waren eine Weile nicht in Paris gewesen. Als meine Kinder dort wieder über die Bürgersteige hüpften, fiel mir eines auf: Sie bewegten sich ganz anders als Menschen aus Paris. So, als wäre die ganze Stadt ein Abenteuerspielplatz. Jeder Passant ein Hindernis, heiter bezwungen zu werden. Sie brachten ihre anarchische, die bestehende Ordnung übersehende Bewegungsart ein, wild und mit keinem Einwand zu zähmen. Längst gelassen im erzieherischen Kapitulationsmodus eingerichtet, guckte ich mir den Firlefanz der Bauernkinder aus akademischem Haushalt an, wie sie die halbwegs kontrollierten Gangarten der Pariser in Bedrängnis brachten, die die Metropole beschritten. Denn der Boden unter den Füßen flüstert Pariserinnen und Pariser zu, wie er begangen werden will. Meine Kinder bekamen nichts davon mit, ihre Fröhlichkeit war laut und blind.

Heute sind meine Kinder städtischer. Sie haben die Bauernzeit nicht vergessen. Sie wissen, wann Äpfel fallen und verrotten, sie kennen den Geruch der Fermentation, haben studiert und sind in der Lage, sich an einer Pariser Caféterrasse zu unterhalten, ohne dabei auf einen imaginären, bespringbaren Strohballen zu schielen. Fast könnte ich darüber erschrecken, wie sie sich von ihrem Übermut gelöst haben und in den gemäßigten Rhythmus von Zivilisation geglitten sind.

Wenn wir vom Süden Deutschlands aus eine Ewigkeit nach Paris fuhren, hörten wir zig mal: Die Route wird berechnet. Das sich ständig korrigierende Navigationsgerät war damals modern. Heute bleibt mir von den langen Fahrten nach Paris das liebliche Stimmchen meiner Tochter: Aber Mama, wer ist denn diese Ute?

Ich hätte am Hörvermögen meiner Tochter zweifeln können, tat es besorgenderweise nicht. Stattdessen zückte ich, im Westen von Paris angelangt, den alten Plan de Paris hervor. Auf der anderen Seite der Stadt Paris intra muros ist nämlich Groß-Paris zu sehen. Mit allen Schleichwegen, in die Ute sich damals nicht traute, weil sie in größte Verwirrung geriet. Ich lotste uns dann über verschiedene Uten zu unserem Zielpunkt. Ute blieb sprachlos zurück. Kurz vor der Place des Vosges faltete ich den Planspeck zusammen, dann im Restaurant »Ma Bourgogne« die weiße, perfekt gemangelte Stoffserviette über meinen Schenkeln auseinander, um mich über irgendwas mit hausgemachten Fritten herzumachen. Worauf sich, nach dem Mahl, unsere Kinder wild um den Platz bewegten, ohne auf Ute zu hören. Die blieb stumm und hungrig im Auto zurück.